Es gibt Kindheitserinnerungen, an die ich gerne denke, und die ich in meinem Leben wohl nie vergessen werde. Ich glaube, manchmal hat sich so eine Erinnerung eingeprägt, weil sie auch eine übertragene Bedeutung hat. Es gibt da eine Geschichte, die ich als Kind erlebt habe, die ich depressiv oder zwanghaft reagierenden Menschen erzähle, süchtigen Leuten und solchen, die immer noch das Gleiche tun, obwohl sie schon lange etwas anderes tun möchten. Das ist die Geschichte von Ludwig:
Ich war noch ein Kind. Aber auch, wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich nicht sagen können, wie sich der Karpfen seine merkwürdigen Reisen wohl erklärt haben mag. Einige Freunde von mir hatten sich nämlich einen Streich mit ihm erlaubt. Mit einem Netz fischten sie ihn heimlich bei Nacht aus seinem Teich. Kilometerweit trugen sie ihn in einem Eimer durch Wald und Flur. Das Schwimmbad im Garten meiner Eltern sollte sein neues Zuhause werden. Ich muss zugeben: Wir staunten auch nicht wenig, als wir ihn da im Badewasser seine Runden ziehen sahen. Es war wohl im September. Gechlort wurde das Wasser nicht mehr, die Schwimmsaison war fast vorüber. Fisch und Mensch machten sich also nicht mehr viel Konkurrenz, und so durfte Ludwig, wie wir ihn nannten, zumindest vorerst bleiben. Der Winter kam, und mit ihm eine dicke Eisschicht. Im Frühjahr aber wurde das Wasser ausgewechselt. Wie sich zeigte, hatte Ludwig den Winter gut überstanden. Der Familienrat beschloss, ihn nun wieder nach Hause zu bringen. Noch einmal wurde Ludwig in einen Eimer verfrachtet. Ein ausgedienter Farbeimer war das größte, was wir fanden. Über Wald- und Feldwege brachten wir ihn zurück zu seinen Freunden und Familienangehörigen. In dem Eimer zog Ludwig seine Kreise. Ziemlich kleine Kreise, denn Ludwig war über Winter gewachsen, und ein alter Farbeimer ist für so einen Karpfen kein Herrenhaus. Zudem verschwappte uns mehr als die Hälfte des Wassers auf dem Weg. Aber schließlich waren wir da. Mit einem Schwung landete Ludwig wieder in seinem Teich bei seinen alten Bekannten. Was er dann tat, war für uns überraschend: Ludwig schwamm dort seine Runden, doch so, als ob er sich nicht in einem Teich, sondern weiterhin in einem kleinen Eimer befinde. Sechs oder sieben Kreise zog er, mit einem Durchmesser von nicht einmal einem halben Meter. Dann wurde aus den Kreisen eine Spirale, erst eng, dann immer weiter. Schließlich begriff Ludwig, wo er war. In einer langen Geraden schoss er aus seiner Eimerumlaufbahn heraus.
(Stefan Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 74)
Die Geschichte gibt es auch als Hypno-Audiodatei zum Download.
Sehr geehrter Herr Hammel!
Danke für Ihren freundlichen Hinweis – finde Ihre Geschichte mit Ludwig sehr einprägsam und originell! Bei mir kam nach kurzer Zeit allerdings die Frage auf,wieso die Tiere sich doch relativ schnell auf veränderte Umweltbedingungen einstellen können, viele Menschen dagegen nicht.
Vielleicht schreibe ich dazu später meine Gedanken in meinen Hypnoseblog.
Mit freundlichen Grüßen
G. J. Dürhager