Der Brunnen

Kennst du diese Springbrunnen mit drei Schalen? Oben kommt ein Strahl heraus, der ergießt sich in die oberste Schale. Wenn die voll ist, läuft sie über. Das Wasser ergießt sich in eine zweite, größere Schale. Wenn die voll ist, läuft sie ebenfalls über, und ihr Wasser fließt in eine dritte, noch größere. Diese dritte, größte Schale läuft nicht über. Irgendwo an der Seite befindet sich ein Ablauf, durch den das Wasser aus der Schale herausläuft in eine Kammer unter dem Brunnen. Von dort wird es mit einer Pumpe kraftvoll in die Höhe gedrückt, so dass es wiederum in einem Strahl nach oben spritzt und sich in die obere Schale ergießt.
Es kann sein, dass du etwas lernen möchtest und den Eindruck hast, es ist zu viel für deinen kleinen Denkapparat. Zu viel auf einmal, zu schnell, zu kompliziert. Dein Raum fürs Verstehen, Merken und Erinnern ist nicht groß genug, das ganze Wissen, was da rein soll, fließt über und ist weg. Es wird von immer mehr nachkommendem Stoff, den du anscheinend wissen sollst, verdrängt.
Was du nicht weißt: All das, was dein bewusstes Denken nicht aufnehmen kann, fließt ins Halbbewusste, und was da nicht mehr reinpasst, ins Unbewusste. Manche sagen auch, es fließt gleich ins Unbewusste und von dort ins Unbewusste des Unbewussten, aber das läuft letztlich aufs Gleiche hinaus. Aus der untersten Schale, aus dem ganz Unbewussten jedenfalls fließt nichts über, sondern es wird abgepumpt und in die Höhe geschickt, und plötzlich, nächste Woche vielleicht, während du gar nichts Besonderes erwartest, kommt es in einem Strahl nach oben, und du bist überrascht: Kommt das von mir? Ich wusste ja gar nicht, dass ich das wusste! Nichts geht verloren. Lass dich überraschen!

Einschlafstörung & Prüfungsangst

Vor zwei Wochen war ein Student bei mir, der abends regelmäßig nicht einschlafen konnte. Ich fragte ihn, woran er denke, wenn er abends so wachliege. Er sagte: „An die Prüfungen.“ Ich antwortete: „Wenn Sie abends zu Bett gehen, legen Sie irgendwo in der Nähe des Bettes die Kleider ab. Legen Sie dort auch die Gedanken hin, die Sie am Einschlafen hindern, einen nach dem anderen, bis Sie sie alle abgelegt haben. Schauen Sie sich genau an, wo Sie die Gedanken hinlegen, und wie sie dort aussehen, im Regal oder auf dem Stuhl, oder wo sie sind. Wenn Gedanken nachkommen, behandeln sie sie wie die Brille oder Uhr, die Sie vielleicht zunächst vergessen hatten, abzulegen. Machen Sie das, bis Sie eingeschlafen sind. Es wird nicht lange dauern.“ Wir einigten uns, dass das als Therapie ausreichen würde, und ich schickte ihn nach einer halben Stunde (und einem halbierten Gehalt für mich) nach Hause.

Heute habe ich eine E-Mail von ihm erhalten:

Hallo Herr Hammel,

hier nun, wie angekündigt, meine Rückmeldung zu unserer letzten Sitzung. In den vergangenen zwei Wochen konnte ich alles in allem wieder besser Ruhe im Bett finden. Der Tipp, die Gedanken wie Kleidungsstücke abzulegen, scheint soweit gut zu funktionieren, auch wenn ich ihn nicht immer bewusst nutze, aber das war ja so gewollt. Da nun Prüfungsphase ist, ist mein Tagesablauf zwar sowieso wieder etwas ruhiger, ich denke für die anstehenden Klausuren bin ich schlaftechnisch trotzdem gewappnet.

Vielen Dank noch einmal für die Hilfe! Sofern es noch einmal notwendig werden sollte komme ich wieder auf Sie zu.

Viele Grüße,

A. B.

Spiel gegen die Langeweile

Ein vierzehnjähriger Junge kam in Beratung, weil seine Schulleistungen in den letzten Monaten so stark nachgelassen hatten, dass er bei gleichbleibenden Leistungen nicht versetzt werden würde. „Ich habe die Schule nicht besonders gemocht“, sagte ich zu ihm. „Ich war froh als ich sie ‚rum hatte“. „Das werde ich auch sein“, sagte er. „Ehrlich gesagt, hätte ich keine Lust gehabt, ein Jahr länger als nötig in der Schule zu sein. Ich weiß nicht, wie es dir geht.“ „Nee, das muss nicht sein.“ Wäre es dir recht, dass wir etwas dafür tun, dass du dir dass ersparst?“ „Das wär schon gut.“ „Was hindert dich denn daran, mehr für die Schule zu tun?“ „Das interessiert mich einfach nicht.“ „Was interessiert dich denn? Gibt es etwas, was du gern machst?“ „Ich spiele gern Fußball.“ „Einfach so auf der Straße oder im Verein?“ „Ich bin in einem Verein.“ „Spielt ihr da manchmal auch Turniere?“ „Klar. Letztes Jahr waren wir zweiter Bezirksmeister.“ „Ich habe eine Bitte an dich oder einen Vorschlag. Welches Schulfach ist denn am langweiligsten?“ „Englisch.“ „Dann fängst du da an. Wenn Englisch keinen Spaß machst, dann spielst du eben Fußball während der Englischstunde. Du spielst mit deinen Leuten gegen eine sehr starke Mannschaft. Bis jetzt haben sie meistens gewonnen. Du spielst gegen die Langeweile.

Das Spiel geht so: Mal dir in Englisch ein Fußballfeld auf ein Blatt Papier. Immer wenn du plötzlich aufwachst und merkst, d hast gar nichts mitbekommen von dem, was gesagt wurde, hat die Langeweile ein Tor geschossen. Dann machst du einen Strich auf der Seite des Fußballfeldes der der Mannschaft der Langeweile gehört. Immer wenn du dich meldest und etwas Richtiges gesagt hast, hast du ein Tor geschossen. Natürlich willst du bis zum Ende der Stunde mehr Tore schießen als die Langeweile. Du kannst auch einen Schultag als Turnier ausbauen: Jedes Fach ist eine andere Mannschaft der Bezirksliga. Am Ende willst du natürlich Meister sein. Probiere das bitte aus und sag mir beim nächsten Mal, wenn wir uns wiedersehen, was sich verändert hat.

Bis zum nächsten Mal hatten sich die Mitarbeit des Jungen im Unterricht wesentlich verbessert. Die Schule machte ihm mehr Spaß. In den darauffolgenden Wochen zeichnete sich ab, dass auch alle schriftlichen Arbeiten wesentlich besser ausfielen als die Vorherigen. Seine Zeugnisnoten am Schuljahresende waren durchweg ein bis zwei Stufen besser als es für die Versetzung nötig gewesen wäre.

Überfall auf das Gedächtnis

Dieses Beispiel illustriert, wie wir frühere positive Lebenserfahrungen nutzen können, um plausibel zu machen, dass eine aktuelle Krise bewältigt werden kann – und um diese dann auch tatsächlich gut zu bewältigen. Entscheidend ist nicht, ob die frühere Erfahrung tatsächlich enge Parallelen zur aktuellen Situation aufweist, sondern ob der Vergleich beider Situationen überzeugend vorgetragen wird.

Vor einiger Zeit klagte die Tochter einer Kollegin, sie habe Gedächtnisschwierigkeiten. „Wenn ich zu einer Prüfungsfrage zehn Antworten wissen muss, fallen mir meistens nur fünf oder sechs ein.“ „Bist du dir sicher“, fragte die Mutter, „dass es immer dieselben fünf oder sechs Antworten sind, oder könnten es auch jedes Mal verschiedene sein, die dir einfallen, so dass du insgesamt vielleicht tatsächlich alle Antworten weißt?“ „Ich denke, es sind jedes Mal andere Antworten, die fehlen. Vielleicht weiß ich insgesamt alle. Aber was nützt mir das? Es fehlen ja trotzdem jedes Mal welche.“ „Ich denke auch, dass du insgesamt alle Antworten weißt. Und darum werden dir in der Prüfung, wenn es darauf ankommt, auch alle einfallen. Jetzt, wo es noch nicht darauf ankommt, weiß dein Kopf, dass du nicht alle Antworten sagen brauchst und sagt nur einen Teil. Aber in der Prüfung sagt er dir alle Antworten.“ „Und woher weiß ich das?“ „Erinnerst du dich daran, wie wir in Kolumbien waren und überfallen wurden? Damals bist du so schnell gerannt wie noch nie in deinem Leben. Und du hast hinterher gesagt: ‘Ich wusste gar nicht, dass ich so schnell rennen kann’. Du konntest da so schnell rennen, weil du es brauchtest. Vorher brauchtest du es nicht, und darum ging es nicht. Genauso ist das mit dem Gelernten und deiner Prüfung.“ „Meinst du wirklich?“ „Wirklich!“ Die Tochter schien beruhigt und setzte ihre Vorbereitungen fort. Sie absolvierte ihre Prüfung und wusste alle Antworten.

(Stefan Hammel, Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung, S. 118ff.)

Streichelpädagogik

Beim Weitergehen finde ich ein Schild mit der Aufschrift:

„Man kann in ein Kind nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“ (Astrid Lindgren)

So viele Türen mit so vielen Botschaften… Sehr gerne möchte ich mich unterhalten mit den Menschen, die dahinter wohnen. Nun frage ich euch: Welche Botschaft könnte an eurer Tür zu lesen sein…?

Die Ahnungslosen

„Ich habe oft Jugendliche vor mir sitzen, die auf jede Frage, die ich ihnen stelle, antworten: ‚Keine Ahnung‘. Was kann man mit denen machen?“ fragte mich eine Beraterin.

„Erzähle ihnen vom Stamm der Ahnungslosen“, sagte ich. „Sie leben im Dschungel der Unwissenheit und haben echt keine Ahnung. Als sie sich Hütten bauen wollten, haben sie am Anfang Gras genommen. Das hat aber nicht geklappt, dann haben sie Blätter genommen. Danach haben sie es mit Lianen probiert, das war auch nicht so gut. Rindenstücke waren zwar besser, aber auch nicht überzeugend. Sie haben alles mögliche versucht, es war alles nichts. Die Holzhütten haben dann schließlich gehalten. Dann wollten sie sich Kleider machen. Und sie hatten echt keine Ahnung. Sie haben mit Schlamm experimentiert, den sie auf der Haut haben trocknen lassen, und danach mit Büffelmist, den sie zu breiten Fladen ausgerollt haben und nach dem Trocknen um die Hüften gelegt haben. Das war zwar besser, hat aber bei Regen nicht mehr funktioniert. Kleider aus Dornengestrüpp waren auch nicht das Richtige. Irgendwann haben sie dann Flechtröcke und Lederstücke verwendet, von da an ging es besser. Die waren so blöd, die waren echt ahnungslos. Einmal wollten sie ein Boot bauen. Da haben sie Wasserpflanzen verwendet. Auch die Boote aus Stein waren nicht gut. Die Ahnungslosen haben alles Mögliche probiert. Sie waren so ahnungslos, dass sie noch nicht mal ans Aufgeben gedacht haben. Das ist schon eine Leistung. So haben sie halt immer weitergemacht. Irgendwann hat mal einer einen Baum ausgehöhlt. Das hat funktioniert, das haben sie beibehalten. Dann wollten sie Fischen fahren. Erst wollten sie die Fische vergiften, aber das war nicht so gut… und so weiter…

Erzähle den Jugendlichen so lange von den Ahnungslosen, bis sie es überdrüssig werden und von ‚keine Ahnung‘ nichts mehr wissen wollen. Erzähle ihnen so lange, wie die Ahnungslosen ‚keine Ahnung‘ hatten, bis die Jugendlichen zwischen Amüsiertheit und zunehmend genervter Ungeduld schwanken. Dann erzähl ihnen eine Lösung und ziehe die nächste Etappe wieder in die Länge. Nimm dir Zeit. Lass die Ahnungslosen so doof sein, wie es nur geht, und noch viel unfähiger, als die Jugendlichen sich fühlen. Lass sie so bescheuert sein, dass die Jugendlichen nur über sie lächeln können. Die Ahnungslosen sind maximal blöd. Das Gute ist nur, dass sie immer weiter machen und immer Erfolg haben. Wer den Stamm der Ahnungslosen kennt, für den ist, ‚keine Ahnung‘ zu haben, nicht mehr cool und auch nicht mehr egal. Aber es ist auch keine Tragödie. Man kann etwas daraus machen.“

Webtipp: Das Reich der Möglichkeiten

Ich könnte mir vorstellen, dass diejenigen, die den Film „Validation“ gemocht haben, auch das Video vom „Reich der Möglichkeiten“ schätzen werden. Das ist nun ein ganz anderer Film. Es handelt sich um eine Demonstration des Bostoner Philharmonie-Dirigenten und Cellisten Benjamin Zander, der seine lebensfreundliche Weltanschauung erklärt und sie demonstriert, indem er einen jungen Cellisten unterrichtet. Eine Hommage nicht nur an die Musik, sondern an das Leben und an die Liebe zu den Menschen und zu sich selbst…

Zu finden ist das Video im Blog des systemagazin, das mein geschätzter systemischer Kollege Tom Levold herausgibt.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Anschauen!

Aktuelle Seminare

Von Mittwoch bis Freitag halte ich auf Burg Fürsteneck bei Fulda (Hessen) das Seminar:

Wenn die Bilder laufen lernen – Hypnosystemische Metaphernarbeit, oder: „Das Leben als Film. Wie innere Bilder uns bestimmen – und wir sie.“ Das Seminar ist Teil der Systemischen Coaching-Intensivausbildung, die ich gemeinsam mit der Akademie Burg Fürsteneck und dem Institut für Systemische Beratung (ISB) Mainz durchführe.

Am Wochenende halte ich das dritte Seminar der Ausbildungsreihe „Hypnotherapie nach Milton Erickson“ in Otterberg. Dieses Mal haben wir zwei Live-Therapien mit Probanden zum Thema Migräne und zu Prüfungsangst. Letztes Mal hatten wir jeweils anderthalb Stunden mit Probanden zu Rauchentwöhnung und zu Gedächtnistraining. Man kann also sehr praktisch sehen und anschließend auswerten, wie Therapie mit Hypnose funktioniert. Der Grundkurs dauert 25 Tage und ist ausgesprochen übungsorientiert. Meines Wissens ist es in Deutschland die einzige Hypnotherapieausbildung im Bereich von Hypnosystemik bzw. Erickson’scher Hypnose, die für Angehörige aller heilenden, pflegenden und beratenden Berufe offen ist.

Weitere Seminare halte ich beim Milton-Erickson-Institut Heidelberg (Gunther Schmidt), beim ICHP in Mannheim (Institute of Clinical Hypnotherapy and Psychotherapy) sowie im Raum Bad Kreuznach und Bingen. Das Letztgenannte sind Seminare für Ärzte, die ich gemeinsam mit einem Arzt (Eugen Schippers) und einem Steuerberater und Betriebswirt (Patrick Weber) halte zur Frage: Wie gründe ich eine Privatpraxis?

Wer neugierig ist, schreibt mir am besten unter stefan.hammel@hsb-westpfalz.de.

Fräulein Gehirn

Hier noch ein Nachtrag. Das ist eine zweite Geschichte, die ich Anna in ihrer ersten Therapiestunde erzählt habe. Seitdem unterhält sie sich öfter mit ihrem Gehirn – etwas, was wir vielleicht alle manchmal tun sollten.

Du weißt natürlich, dass du ein Gehirn hast, und dass es denken kann, nicht wahr? Hast du schon einmal mit deinem Gehirn gesprochen? Nein? Dann ist ja heute Zeit, um damit anzufangen. Wie heißt denn dein Gehirn? Ist es ein Mann oder eine Frau?
Sehr gut… Du kannst also zu deinem Gehirn sagen: „Guten Tag, Fräulein Gehirn!“ und bestimmt wird es antworten: „Guten Tag, liebe Anna“. Du kannst es fragen: „Liebes Fräulein Gehirn, könntest du mir dabei helfen, mich immer zu konzentrieren, wenn meine Lehrerin die Hausaufgaben erklärt?“, und Fräulein Gehirn wird dir antworten: „Natürlich kann ich das, liebe Anna, du hast mich nur noch nie danach gefragt.“ „Ach so“, kannst du dann sagen, „dann bitte ich dich jetzt darum. Würdest du mich bitte immer wach und konzentriert sein lassen, wenn die Lehrerin die Hausaufgaben erklärt, liebes Fräulein Gehirn?“ „Aber selbstverständlich, liebe Anna!“