Noch eine E-mail, die mich beschäftigt hat. Letzte Woche hat mir eine Kollegin geschrieben:
Könnten Sie mir vielleicht mit einer Geschichte persönlich auf die Sprünge helfen, meine Scheu zu überwinden, Geschichten in die Therapie mit einzubauen? Als meine Tochter klein war, hat sie mir drei Dinge genannt, aus denen ich dann ad hoc (im Erzählen) Geschichten erfand: langweilige, interessante, lustige, traurige… Als Therapeutin habe ich da irgendwie eine Blockade.
Woran hängt’s? Ich glaube ja, wir erzählen den ganzen Tag Geschichten, langweilige, interessante, lustige, traurige, und wir merken es gar nicht. Und wenn wir plötzlich sollen, versiegt die Quelle, die sonst munter sprudelt. Das ist, wie wenn man aufgefordert wird, einen Schluckauf aktiv am Laufen zu halten, und er bleibt weg. Was kann man da tun. Ich hab also geantwortet:
Als wir Kinder waren, sind meine Eltern mit uns zu den Verwandten nach Amerika gefahren. Meine Schwester wollte richtiges Englisch reden und hat daraum geschwiegen. Ich wollte mich nur verständigen und habe darum geredet – radebrechenes Englisch voller Fehler. Meine Verwandten waren beeindruckt, meine Eltern waren stolz auf mich, und ich glaube, meine Schwester war neidisch auf mich. Aber so habe ich gelernt, flüssig Englisch zu sprechen.
Entscheiden Sie sich, schlecht zu erzählen! (Note 4 oder so.)
Manchmal fragen Leute meine Mutter, wie sie es hinkriegt, immer so schöne, sympathische, unterhaltsame Briefe zu schreiben. Sie sagt: „Ich schreibe, wie ich spreche.“
Entscheiden Sie sich, literarisch schlechte, aber therapeutisch brauchbare Geschichten zu erzählen. Erzählen Sie sie so, wie Sie Ihrer Freundin ein Auflaufrezept oder das Ergebnis vom letzten Kleiderkauf erzählen.
Einst wurde der Meister gefragt: „Was machst du, wenn dir die Gleichnisse ausgehen?“ Der Meister antwortete: „Dann erzähle ich ein Gleichnis über einen, dem die Gleichnisse ausgegangen waren.“ Da baten ihn die Schüler: „Erzähle uns doch dies Gleichnis!“ Und der Meister sprach: „Noch nicht. Denn so lange ich dieses habe, sind mir noch nicht alle Gleichnisse ausgegangen.“ (Der Grashalm in der Wüste, S. 50)
Nutzen Sie alles für eine Geschichte.