Der Geschichtenerzähler (IV)

Weiter geht’s mit Folge vier…

Von da an erzählte ihm sein Lehrmeister täglich solche halbe oder dreiviertel Geschichten. Einmal erzählte er nur den Anfang, ein andermal bloß den Schluss. Manchmal erzählte er nur ein Stück aus der Mitte der Geschichte und einmal gar verfiel er nach zwei einleitenden Sätzen in ein langes Schweigen und sagte schließlich nur: „Am Ende musste die Königstochter selbst den Drachen töten.“
Hatte sich der Junge allmählich mit diesen Merkwürdigkeiten abgefunden, so störte ihn jetzt, dass ihm der Meister immer mehr die Krankheiten und Gebrechen seines Alters zu klagen begann. Einmal schmerzte ihn die Hüfte, ein andermal versagte das Knie, dann wieder bereiteten ihm seine schwachen Augen Kummer, und jedes Mal benötigte er seine Hilfe. Zunehmend machte dem Alten auch seine Vergesslichkeit zu schaffen.
Immerhin freute sich der junge Mann, dass sein Lehrer den anderen jetzt auch Geschichten erzählte, wenn er zugegen war. Doch sein Gedächtnis war nicht mehr dasselbe wie früher. „Wie war noch diese Geschichte?“ fragte er. „Wie ging das noch?“, „Wie hieß der Mann?“ oder „Was kam dann?“ Nie konnte der junge Mann entspannt einer Geschichte zuhören. Denn immer musste er damit rechnen, seinem Meister plötzlich aus einer Klemme helfen zu müssen. Wenn er ihm Antwort gab, so wie er sich den Fortgang der Geschichte vorstellte, sagte sein Meister oft: „Ja, genau!“ und fuhr in seiner Erzählung fort. Andere Male wurde er ärgerlich: „Nein, Unsinn! Jetzt weiß ich wieder, wie sie geht“ und erzählte die Geschichte anders weiter.
Einmal erlitt der Meister auf dem Marktplatz beim Erzählen einen Schwächeanfall. Er wies auf den jungen Schüler und sagte leise: „Er kennt die Geschichte gut. Er kann sie zu Ende erzählen.“ Dann ließ er sich von zwei Männern nach Hause bringen und legte sich ins Bett. Natürlich hatte der junge Mann diese Geschichte in seinem ganzen Leben noch nie gehört. Doch weil keiner der Zuhörer sich von der Stelle rührte und alle mit gebannten Augen auf ihn schauten, blieb ihm nichts übrig, als die Geschichte zu Ende zu erzählen. Zufrieden gingen die Zuhörer nach Hause, verwundert und erleichtert war er.
In der kommenden Zeit lag sein Lehrmeister oft im Bett. „Ich habe dem oder jenem eine Geschichte versprochen. Doch mir ist heute nicht wohl. Geh bitte hin und erzähle sie ihm“, sagte er dann. Dem jungen Schüler widerstrebte das, doch wagte er nicht zu widersprechen und so ging er hin…

Und morgen geht’s weiter…

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