Gestern war ich in einem Geschäft in der Stadt einkaufen. Die Verkäuferin war allein im Laden, und das Wechselgeld ging ihr aus. Wir kannten uns nicht, hatten aber vor dem Bezahlen eine Zeitlang geplaudert. Nun drückte sie mir einen 50-Euro-Schein in die Hand und sagte: „Darf ich Sie bitten, den gerade im Elektrogeschäft nebenan für mich zu wechseln?“
Nun fragte ich mich: Ist die Frau verantwortungslos, unachtsam, naiv, ist sie menschenkundig, vertrauensvoll oder herzlich und unkonventionell, dass sie einen fremden Mann mit 50 Euro aus ihrer Kasse auf die Straße schickt?
Wahrscheinlich ist sie nichts von alledem, oder alles. Die Frau hat sich ganz einfach nur verhalten. Die Begriffe sind Zuschreibungen in mir und haben mit der Frau nichts zu tun. Rückschlüsse vom Verhalten eines Menschen auf sein So-sein sind nicht zulässig, oder allenfalls, wenn ich bei einem anderen und wieder-anderen Verhalten desselben Menschen bei den nächsten Malen dann auch sein Anders-sein und Wieder-anders-sein konstatiere. Selbst aus dem wiederholten Verhalten eines Menschen kann ich keine Eigenschaften ableiten: Denn erstens unterstelle ich damit, dass er nicht regelmäßig anders handeln kann (denn sonst hätte er ja plötzlich andere Eigenschaften, wäre also ein anderer Mensch), und zweitens ist es nicht entscheidbar: Ist die Frau weise, naiv, vertrauensvoll oder originell? Ist ein anderer Mensch genügsam oder geizig? Ist ein anderer berechnend oder geschäftstüchtig? Ist einer heldenhaft oder dumm? Charakterstark oder stur?
Ich hätte den Laden mit dem Schein verlassen können und nicht mehr wiederkommen. Stattdessen drückte ich der Verkäuferin meinen Geldbeutel in die Hand und sagte: „Als Pfand.“ Darin befanden 200 Euro, mein Personalausweis, mein Führerschein und die Kreditkarte.
Für hundert Menschen, die dies lesen, bin ich hundert verschiedene Leute mit mehr als hundert Eigenschaften. Mit mir aber hat das alles nichts zu tun.