Gestern hat mir eine Frau gemailt, deren Tochter stottert. Was würde ich als Therapeut mit einem stotternden Kind machen? Mir ist Folgendes dazu eingefallen.
Ich würde ermitteln, wann das Stottern nicht oder weniger ausgeprägt auftritt. Soweit ich weiß, ist das üblicherweise beim Singen der Fall, und sicher gibt es Unterschiede zwischen stressigen und entspannten Situationen. Ich würde erfragen, an welchen Orten, bei welchen Personen, in welchen Situationen, bei welchen Gedanken und Bildern die positivsten Zustände auftreten.
Insgesamt würde ich bei der Therapie nur initial anknüpfend, dann aber jeweils immer weniger über Stottern reden, weil die Person, die Stottern gelernt hat, damit das Stottern aktiviert.
Ich würde aber mit der Person humorvoll darüber nachdenken, wie sie das Stottern gelernt hat. Ich würde – soweit die Person mitmachen kann, diese Leistung (gleich beginnen mit der Fremdsprache) augenzwinkernd würdigen. Damit ist impliziert, dass das Stottern für etwas gut ist, und dass es irgendwie aktiv produziert ist, also im Bereich des aktiv beeinflussbaren liegt). Impliziert ist auch, dass die Muttersprache ebenso aktiv gelernt werden kann. Impliziert ist, dass man dazu beide Sprachen unterscheiden muss, und dass sie das Stottern nicht verlernen braucht, sondern nur eine weitere Option dazu lernt. Sie kann jederzeit wieder stottern, wenn Stottern dran ist.
Das Wort „Stotterer“ würde ich nicht verwenden, weil es das Symptom statt als Tun (was sich durch ein anderes Tun ersetzen lässt) in der Art einer Identität beschreibt (was impliziert, dass es sich schwer oder gar nicht verändern lässt).
Möglich, dass das Stottern der Tochter Zeit gibt, gedanklich „nachzukommen“ bzw. Raum einzunehmen, wo ihre Geschwister kognitive und kommunikative Leistungen einfach schneller hinkriegen. Möglich, dass es ein Symbol ist für das Stolpern bei der Bemühung, mit den Familienmitgliedern Schritt zu halten und gleichzuziehen. Wie ein Kind, das stolpert, während die Erwachsenen und die großen Geschwister bei einem schnellen Aufbruch voraneilen.
Ich würde also nun zwei Figuren etablieren, zwei Teil-ichs oder Ichanteile. Das könnte in Form von zwei Stofftieren oder Handpuppen, in Form von gemalten oder imaginierten Figuren geschehen. Oder auch in Form zweier Protagonistinnen in einer Geschichte.
Also, da sind diese beiden Frauen… Die eine, Frau Sing, ist eine ausgezeichnete Sängerin, und sie trägt auch wunderschöne Gedichte vor und hält schöne Reden.
Die andere, Frau Flies, ist Treppenbauerin. Sie baut Holztreppen, Marmortreppen, sie baut sogar Glastreppen und Gummitreppen. Sie baut Lachstreppen und Wendeltreppen. Sie baut Treppen rauf und Treppen runter, und sie hat eine neue Treppe erfunden, die raufrunter-raufrunter-raufrunter geht. Sie hat eine Treppe erfunden, die man zusammenklappen kann, eine, die man zusammenschieben kann und eine, die vollkommen eben ist. Wie das funktioniert, habe ich nicht verstanden, aber es geht wirklich, eine vollkommen ebene Treppe, das haben mir Fachleute versichert. Frau Fließ hat eine Kollegin, mit der Sie gemeinsam auch Rolltreppen baut. Also, faszinierend an solchen Rolltreppen ist ja, dass sie als Nichttreppe beginnen, dann immer mehr zur Treppe werden, dann wieder immer weniger Treppe werden und schließlich als Nichttreppe enden. Als Kind habe ich mich immer gefragt, wo diese Rolltreppen herkommen und wo sie hingehen. Auf einem Flughafen habe ich eine Rolltreppe ohne Stufen gesehen. Man könnte ein so eine stufenlose Rolltreppe auch einen Hügel einbauen, so dass sie von einem ebenen Laufband mittendrin zu einer Rolltreppe hoch, Rolltreppe runter, wieder zu einem ebenen Laufband wird. Oder mit einer Hochebene zwischendrin. Treppe hoch, oben-eben, Treppe runter. Oder dasselbe mit einer Tiefebene. Die Gepäckbänder auf den Flughäfen sind wie so eine ebene Treppe, die um mehrere Kurven gehen. Bei manchen dieser Gepäckbänder kommt das Gepäck aber erst eine schiefe Ebene hoch, oder auch eine Gepäcktreppe oder einen Gepäckaufzug hoch, bevor es in die Runde geht. Es gibt viele flexible Arten, solche Treppen und Bänder zu konstruieren. Frau Fließ ist eine Spezialistin darin.
Frau Sing ist die Gesangslehrerin von Frau Fließ. Denn Frau Fleiß, Verzeihung, Frau Fließ, möchte das Singen lernen. Nun gibt es ja viele Arten zu singen. Es gibt Operngesang und Gospel, Pop und Folklore, es gibt Flüstergesang und Sprechgesang. Frau Sing bringt Frau Fließ das Singen auf viele verschiedenen Arten bei.
Dann bringt sie ihr etwas bei, was sie als Gesangslehrerin entdeckt hat. Und zwar, dass es fließende Übergänge zwischen Singen und sprechen gibt. Völlig fließende Übergänge. Es gibt ein Singen, das ist Sing-sing-sing-singen, und ein Singen, das ist Sing-sing-sing-sprechen, und ein Singen, das ist Sing-sing-sprech-sprechen, und ein Singen, das ist Sing-sprech-sprech-sprechen, und ein Singen, das ist sprech-sprech-sprech-sprechen. Mancher meint, das letztere sei gar kein Singen, aber nachdem jemand so Singen gelernt hat, ist alles ein bisschen Singen. Auch das Sprechen, wird eine Art Singen, nur mit weniger deutlichen Tönen.
Frau Fließ lernt zuerst das Sing-sing-sing-singen, dann das Sing-sing-sing-sprechen, dann – na, und-so-weiter. Und danach wieder rückwärts, hin zum Singen.
Wichtig ist, dass jeder Raum einen etwas anderen Raumklang hat, einen etwas anderen Hall, eine eigene Akustik. Frau Sing bringt Frau Fleiß, äh, Fließ, das Singen und Singsprechen in verschiedenen Räumen bei, so dass jedes Singen, Singsprechen und Sprechen zum jeweiligen Raum passt.
Denn in einer Kirche singt, singspricht und spricht es sich anders als in einer Küche, in einem WC anders als auf der Straße, und im Treppenhaus anders als auf dem Marktplatz. In völliger Stille ist es anders als im Maschinenraum eines Schiffes, und so weiter und so weiter.
Jedes Singen, Singsingsingsprechen und Singsingsprechen will zu seiner Umgebung passen, auch zu den Leuten, die zuhören. Und sprechen ist, wenn man Singen gelernt hat, eine Art zu Singen mit weniger Ton. Man stellt sich vor, zu singen, und man lässt die Töne weg. Der Klang ist dann immer noch ein besonderer. Bei Frauen ein besonders weiblicher, schöner Ton, der zum Beispiel Männern gut gefällt. Bei Männern ein besonders männlicher, voller Ton, der zum Beispiel Frauen gut gefällt. Wer gelernt hat, zu sprechen und sich dabei Singen vorstellt – und das geht irgendwann ganz automatisch, ganz mühelos und von selbst, der bekommt immer mehr eine Stimme, die Menschen anzieht, eine Stimme, die das Ohr wärmt und verwöhnt. Eigentlich geht es Frau Fließ jetzt nicht mehr um das Singen als Singen. Es geht ihr – ob singen oder singsprechen, ob Kirche oder Treppenhaus – es geht ihr um diesen Klang, der das Ohr verwöhnt.
Wer sich die strukturelle Logik der enthaltenen Metaphern vor Augen führt, kann man sich nun regelmäßig weitere Geschichten mit parallelen Logiken ausdenken:
- Wie jemand bemerkte, dass die Lachse eine Staustufe nicht hochkamen und darum die erste Lachstreppe erfand.
- Die Erfolgsbiographie einer Olympia-Hürdenläuferin.
- Das Schmirgeln und Lackieren eines Regatta-Segelbootes, um den Wasserwiderstand zu verringern – und warum es gut ist, zuerst raues, dann mittelfeines und erst am Ende ganz feines Schmirgelpapier zu verwenden.
- Warum Sängerinnen Halspastillen für ihre Stimmbänder verwenden.
- Die Kunst des Bügelns und der Sinn von beidem: Falten rein- und Falten-rausbügeln.