Einmal die Wüste zu erleben, die riesige weite Sahara, das war sein Traum. Jetzt hatte er sich diesen Traum erfüllt. Mit Flugzeug, Bus und Jeep war er dorthin gekommen, in irgendein bedeutungsloses Dorf, das er sich auf der Landkarte ausgesucht hatte, irgendwo am Rande der Sahara. Und er wusste: Dahinter kommt nichts mehr. Keine Straße, keine Siedlung, keine Quelle. Nur Sand, Steine, Felsen. Was ihn eigentlich dahin gezogen hatte, wusste er nicht. Eine Sehnsucht, aus der Tiefe seiner Seele. Vielleicht war es das, vielleicht war er zu lange von zu vielen Menschen umgeben gewesen, zuviel Unruhe, zu viele Stimmen, die alle etwas von ihm wollten. Auf der Arbeit, in der Nachbarschaft, die Familie zuhause, alle zerrten sie an einem: Könnten Sie nicht… würdest du bitte. Und nun: Stille, nichts und niemand um ihn herum.
Danach hat er sich gesehnt. Lange, vielleicht ein Leben lang. So still ist es hier, dass er den Sand und die Steine unter seinen Füßen knirschen hört, bei jedem Schritt. Bevor die Nacht einbricht, wird er noch einmal etwas in sich aufsaugen von dieser riesigen, weiten Einöde. Der nächste felsige Hügel ist kein zu weites Ziel. Nur anstrengend ist der Aufstieg. Nicht wegen der Temperatur. Die Sonne steht schon tief, und es ist erstaunlich kühl geworden. Aber der Sand unter ihm rutscht bei jedem Schritt und zieht seine Füße nach hinten. Schließlich steht er oben. Er schaut vor in die Wüste und zurück auf das Dorf. Rot beginnt die Sonne hinter dem Dorf unterzugehen. In einigen Hütten brennen schon Feuer. Ihr Flackern kann er durch die kleinen Fenster noch deutlich erkennen. Und dieses letzte bisschen Zivilisation möchte er nun hinter sich lassen. Ruhe. Am besten von allen Menschen. Danach sehnt sich sein Herz. Er macht sich auf den Weg talabwärts zum nächsten Hügel. Von dort will er das Abendrot noch einmal anschauen und nichts als Wüste um sich sehen. Der Weg ist nicht sehr weit, aber doch mühevoll. Der rutschende Sand macht ihm zu schaffen und Felsbrocken, die zu umklettern sind. Und es wird rasch dunkel. Als er auf dem Hügel anlangt, ist das Abendrot verschwunden. Einige Minuten steht er da, bis er aufwacht aus seinem Traum.
Um ihn ist es stockdunkel. Nicht die Dunkelheit, die er von zuhause kennt, an die die Augen sich gewöhnen. Sondern buchstäblich sieht er die Hand nicht mehr vor seinen Augen. An eine Rückkehr ins Dorf ist nicht zu denken. Was ihm dabei Sorgen macht, ist, dass es inzwischen schneidend kalt geworden ist und offenbar immer kälter wird. Eine solche Kälte hätte er in der Wüste nicht für möglich gehalten. Er fühlt sich hilflos, da im Dunklen in seinem Sommerhemd, seinen Shorts und Sandalen. Angst überfällt ihn. Er fürchtet, diese Nacht nicht zu überstehen. Er fürchtet zu erfrieren, einsam zu sterben und niemals gefunden zu werden. Er denkt an seine Familie. Seine Gedanken beginnen zu kreisen. Was sie wohl tun werden, wenn er nicht wieder zu ihnen nach Hause kommt? Ob sie ihn suchen werden, ob sie es je erfahren werden, wo er geblieben ist? So gerne möchte er sie wieder sehen. Am Horizont sieht er drei Lichter. Wie Sterne, die aufgehen, etwa dort, wo vorher die Sonne untergegangen ist. Er denkt: „Im Westen gehen keine Sterne auf. Ob ich schon fantasiere? Und diese Sterne bewegen sich seitwärts, mehr so wie – Taschenlampen.“
Stunden später sitzt er mit den drei afrikanischen Männern und einigen anderen Dorfbewohnern in einer Hütte am Feuer. Eine verschleierte Frau reicht ihm gebratenes Lammfleisch und einen Becher mit Ziegenmilch. Sie verständigen sich mit Händen und Füßen. Mit Zeichen und Gesten drückt er den Dorfbewohnern seinen Dank aus. „Inschallah“, lächelte ein Mann. „…wie Allah will“.