Der Esel

Zu den Adventssonntagen und Weihnachtsfeiertagen möchte ich ein paar Geschichten erzählen, die vielleicht weniger Bezug zu Beratung haben, dafür aber zu dieser Jahreszeit und ihrer Bedeutung. Einige Geschichten mit spirituellem Hintergrund und Bezug zu meinem Erstberuf. Es geht sofort los.

Ich alter Esel! Was hab ich da getan? Ich habe Nein gesagt und Ja getan. Wie konnte ich nur? Ich bin ein Esel. Mit fremden Leuten wegzugehen. Leute, die ich nicht mal kannte! Ich meine, schlecht war es nicht. Eigentlich hat es gut getan. Eigentlich sehr sogar. Und ich habe viel dabei gelernt. Ich frage ja nur: Wie komme ich dazu? Ich meine: Erst hab ich natürlich auf stur gestellt. Was wollten denn diese beiden verzottelten Männer von mir? Kamen da an und wollten mich losbinden von meinem Haus. Klar hab ich da protestiert. I-aah! I-aah! I-aah! Da kam auch gleich kam meine Chefin gelaufen und fing an, heftig mit den beiden zu diskutieren, so richtig mit Händen und Füßen. Was denen denn einfiele, und so. Ich verstehe diese Menschensprache nicht so gut, aber das hab ich verstanden.
Die beiden Männer waren sehr freundlich und erklärten ihr, ich würde von jemand gebraucht. Das hab ich auch verstanden. Meine Chefin wurde dann bald ruhiger. Anscheinend kannte sie denjenigen, der mich da brauchte. Bald wurde sie richtig freundlich und bedrängte die Männer, auf Tee und Hirsefladen mit ihr ins Haus zu kommen. Ich glaube, die beiden hatten ziemliche Mühe, ihr beizubringen, dass sie mich jetzt gleich bräuchten und sie sich leider nicht aufhalten könnten. Schließlich gab sie nach.
Eigentlich wollte ich mich ja jetzt weiter stur stellen. Da neben mir war ja noch mein Fohlen. Sollte ich das allein lassen? Da wäre ich ja ein Rabenesel! Aber diese beiden Jungs haben einfach das Fohlen mit losgebunden. Unverschämtheit! Da blieb mir gar nichts anderes übrig, als mitzukommen. Ansonsten machten sie mir einen anständigen Eindruck. Ich gehe ja nicht danach, ob die Menschen sauber und gekämmt sind. Ich gucke mir an, wie sie miteinander umgehen. Meine Chefin hat mich freundlich getätschelt und mir gesagt, die bringen mich schon wieder. Haben sie auch gemacht. Aber erst kam noch was ganz anderes. Erst haben sie mich zu ihrem Chef gebracht. Das war der verzotteltste von allen. Aber mit einem unheimlich freundlichen Blick. Er hat erst mal mit mir geredet und mir die Nüstern gestreichelt. Hey, ein freundlicher Herr! Vor so einem kann ich Respekt haben. Die anderen Männer legten dann Kleider auf meinen Rücken, als Sattel sozusagen, auf den ihr Chef sich drauf setzen sollte. Das hat er auch getan. Ich dachte wieder: „Nicht ohne meine Tochter!“, und hab die Muskeln bis runter zu den Hufen angespannt. Dann sagte der freundliche Herr zu seinen Freunden, sie sollten meiner Kleinen auch etwas Kleidung auf den Rücken legen. Da hab ich kapiert, dass sie mit auf die Reise geht. Das war o.k.
Wie er so auf mir saß und ihn alle bewunderten, da spürte ich: Das gibt’s nur einmal. Das hier ist etwas Besonderes. Nach und nach kamen immer mehr Leute dazu, eine richtige Menschenmenge. Sie jubelten und schwenkten Zweige durch die Luft, und viele zogen ihre Obergewänder aus und breiteten sie wie einen Teppich vor mir aus. Eigentlich natürlich vor meinem Chef. Dem haben sie auch zugejubelt. „Hosianna!“ haben sie gerufen. Das ist nämlich Hebräisch und heißt: ,,Hilf uns doch!“ Sie nannten ihn „Sohn Davids“. David, das war mal ein großer König. Auf den sind die Leute in Jerusalem immer noch mächtig stolz. Der hat auch in Jerusalem gewohnt. Aber David ist schon so lange tot. Es gibt keinen König mehr. Oder sollte es jetzt doch einen geben? Ich dachte immer, die Römer regieren hier. Aber wie wir auf dieses Tor zugingen, also ich und mein Junges, und dieser freundliche Herr auf meinem Rücken, und diese jubelnde Menge ringsherum – also, das konnte nur ein König sein. So viel habe ich verstanden, und davon lasse ich mich auch nicht abbringen. Aber die Leute, die meisten von ihnen, haben nichts verstanden. Nämlich später haben sie „Kreuzige!“ geschrieen und damit geholfen, ihren König zu verurteilen. Sie haben erst „Ja“ gerufen und dann „Nein“ getan. Ich weiß, es ist schwer für die Menschen, einen König zu tragen, der nicht mit Gewalt die Römer vertreibt. Die Menschen sind Gewalt gewöhnt. Sie vertragen keinen, der mit Liebe regiert. So ungewöhnlich es ist: Die Liebe schmerzt sie mehr als die Gewalt.
Ich gebe zu, ich bin auch kein Engel. Ich bin ein Esel. Aber ich habe dazugelernt. Ich habe nur am Anfang „Nein“ gesagt und dann doch „Ja“ getan. Ich habe doch diesen König mit Stolz getragen. Ich trage ihn immer noch! Ich trage ihn nicht auf meinem Rücken. Ich trage ihn in meinem Herzen.

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