Als wir Kinder waren, hatten meine Schwester und ich eine bestimmte Gewohnheit. Wenn wir bei Großelternbesuchen morgens erwachten, meistens zwischen fünf und sechs Uhr, stiegen wir zu meinem Großvater ins Bett und drückten mit dem Finger auf einen Knopf seines Schlafanzugs. Dort befand sich nämlich der Schalter für die Geschichten. Einige dieser Geschichten hatte er gehört und einige gelesen, manche waren selbst erlebt und andere frisch erfunden. Eine Erzählung gab es, die ich wieder und wieder von ihm hören wollte. Das war die Geschichte vom verlorenen und wieder gefundenen Schaf aus dem fünfzehnten Kapitel des Lukasevangeliums. Mein Großvater mochte sich fragen, warum er mir diese Geschichte so oft erzählen musste, aber er tat es immer wieder für mich. Ich brauchte diese Geschichte. Es war meine Geschichte. Zwei wichtige Passagen gab es in seiner Erzählung, die jedes Mal wiederkehrten: Wie der Hirte nach langem Suchen und Rufen die erste Antwort seines Schafs erhielt, und sich das Rufen des Hirten und das „Mäh“ des Schafes abwechselten, bis er sein Schaf gefunden hatte – und wie er es fand: Das Schaf war tief in einen Dornbusch verstrickt. Es konnte nicht mehr vorwärts und nicht mehr rückwärts gehen. Vorsichtig befreite der Hirte das Tier…
Diese Geschichte hat mich durch die Kindheit begleitet. Als ich erwachsen war, hat sie mir als erste deutlich gemacht, dass Geschichten eine therapeutische Kraft haben, in einem Maß, das wir vermutlich noch oft unterschätzen. Diese Geschichte ist zweitausend Jahre alt. Sie wurde aufgeschrieben, weil sie ihren Zuhörern geholfen hat und beeinflusst noch heute das Denken und Erleben von Menschen.