Letzte Woche habe ich das Manuskript zum „Handbuch der therapeutischen Utilisation“ bei der Lektorin zur Korrektur abgegeben, das Anfang April kommenden Jahres bei Klett-Cotta erscheint. Trotzdem die Abgabe mich jetzt ein bisschen erleichtert, sind noch viele Feinarbeiten nötig. Der Kern des Buches besteht aus über 60 kurzen Fallgeschichten aus der Beratungs- und Therapiearbeit, die auf die Fragen hin untersucht werden: Was aus dem Leben der Klienten und was von ihren Problemen oder Symptomen (oder auch was von der aktuellen Beratungssituation) wird in der Therapie jeweils genutzt, um zu Lösungen zu kommen. Und wie geht das? Wass wirkt befreiend an der Therapie? Und wie kann die Therapie so individualisiert werden, damit die Beratung so individuell wird wie die Klienten und ihre Geschichten es sind?
Einige Geschichten, die ich in dem Buch betrachte, handeln von Klienten mit Tinnitus. Davon möchte ich hier eine herausgreifen. Das war in diesem Frühjahr…
Ein etwa 60jähriger Mann war wegen Tinnitus zu mir in Therapie gekommen. Er wirkte auf mich kaum hoffnungsvoll, eher müde und depressiv. In den zwei ersten Stunden machte die Therapie wenige Fortschritte. In der dritten Stunde hielt ich folgende Rede: „Ist es nicht seltsam, dass wir ein nervöses Zucken der Augenlider ganz deutlich bemerken, wenn wir etwa unausgeschlafen sind und die Nerven sich nicht genügend erholt haben, den Herzschlag, der viel stärker ist, aber fast nie wahrnehmen? Wir blenden ihn einfach aus. Und warum bemerken wir einen Schluckauf viel mehr als den Herzschlag, obwohl der Herzschlag eine weit größere Aktivität von Muskeln und Nerven beansprucht? Und ist es nicht eigenartig, dass wir die Schläfenader, die doch direkt neben dem Trommelfell vorbei läuft, niemals hören? Auch die blenden wir aus. Unseren Atem spüren wir nur selten und hören ihn fast nie, obwohl wir ihn doch ständig fühlen und sehr oft auch hören könnten. Er bietet keine Neuinformation für uns, er hat keinen Informationswert, darum vergessen wir ihn, und das ist gut so. Wir kommen auch nicht auf die Idee, uns über unseren Atem zu ärgern oder ihn belastend zu finden. Er gehört einfach dazu. Wenn ich Sie fragen würde, ob es Sie irgendwo juckt oder kribbelt, könnten Sie mir bestimmt etwas dazu sagen, aber eben haben Sie noch nichts davon bemerkt. Ihre Augenlider schlagen mehrmals in der Minute, aber Sie bemerken Ihren Lidschlag sicher seltener als einmal am Tag. Ihr Unbewusstes weiß, dass er da ist, aber ihr Bewusstes bemerkt davon nichts. Es braucht nichts davon zu wissen, ihr Lidschlag enthält keine für Sie relevante Information. Sie verschwenden keinen Gedanken daran, die Unterbrechung des Sehens als lästig zu empfinden. Sie sind es gewohnt, Sie bemerken es gar nicht. Dasselbe gilt auch für andere Wahrnehmungen. Wenn Sie darauf achten würden, wie oft im Körper ein Knochen knackt, etwa ein Fingerknochen, der Unterkiefer, das Knie oder ein Knochen der Wirbelsäule, dann wären Sie überrascht. Sie nehmen es nur selten wahr, es braucht Sie nicht zu interessieren, genauso wenig wie andere Dinge, die Sie in ihrem Körper hören, etwa die Geräusche Ihres Darms, der sich übrigens unablässig bewegt, ohne dass Sie das spüren, obwohl sich nirgendwo im Körper mehr Nerven befinden als gerade im Bereich Ihres Darmes. Wenn Sie genau hinfühlen, können Sie etwas von der Durchblutung Ihrer Körperteile bemerken, wie das Blut ununterbrochen durch sie hindurch strömt. Im Alltag bemerken Sie das nicht, es ist belanglos, Sie blenden es aus, genauso wie die Schlieren, die über Ihr Gesichtsfeld ziehen. Im Auge haben Sie einen blinden Fleck, wo Sie nichts sehen, und auch den bemerken Sie nicht. Wenn Sie zuhause sitzen, bemerken Sie nur ganz selten das Geräusch der Heizung oder das der Autos, die draußen vorüber fahren, und während Sie fernsehen, hören Sie nicht die Spülmaschine, die nebenan läuft. Ihr Körper kann laute Dinge leise hören und leise Dinge laut. Und wenn Sie bei Nacht in den Sternenhimmel schauen, können Sie im Augenwinkel einen Stern sehen, und wenn Sie darauf schauen, sehen Sie ihn nicht. Dann schauen Sie daneben, er ist wieder da, schauen hin, und der Stern ist weg. Manchmal können Sie die Milchstraße nur im Augenwinkel sehen, wenn Sie darauf schauen, aber nicht. Und das ist mit anderen Wahrnehmungen genauso. Wenn Sie mitten in einen Schmerz hinein fühlen, wird er möglicherweise weniger. Manchmal meinen Sie, etwas gehört zu haben, und wenn Sie hin horchen, ist es weg. So kann sich das Gewohnte umkehren, und die erwartete Wahrnehmung sich in ihr Gegenteil verwandeln, und all das ist ganz alltäglich.“
Ich fragte ihn: „Was gibt es, was Sie mir im Moment gerne sagen möchten?“ „Ich weiß nicht, es ist alles normal.“ „Was heißt das genau für Sie: ‘Es ist normal?’“ „Wie immer.“ „Und wie ist es jetzt gerade?“ „Wenn ich hinhöre, wird der Ton leiser.“ „Ist das denn normal?“ Und er bemerkte, dass zuvor der Ton immer lauter geworden war, wenn er auf ihn geachtet hatte.
Aus: Stefan Hammel, Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung. Stuttgart, Klett-Cotta 2011 (Erscheinungstermin Ende März / Anfang April).