In letzter Zeit hatte ich in Mainz ein Mädchen in Therapie, die sich regelmäßig alle Augenbrauen- und Lidhaare ausgezupft hat. Trichotillomanie nennt an diese Störung, allerdings nehmen die meisten Betroffenen dafür Kopfhaare.
Nachdem ich mich nach den Hintergründen erkundigt hatte, keine auslösenden Ereignisse oder chronischen Belastungen finden konnte und erfahren hatte, dass sie sich ausschließlich am Badezimmerspiegel zupft, sagte ich ihr und den Eltern, , es gebe mehrere mögliche Therapieansätze. Meine bevorzugte Herangehensweise sei die: Sie müssten für etwa zwei Wochen den Badspiegel und vorsichtshalber auch alle anderen Spiegel im Haus entfernen. Dem Mädchen gefiel das gar nicht, und auch die Eltern schienen zu zögern. So sagte ich, es gebe noch eine zweite Möglichkeit. Ich bat das Mädchen, sich bis zur nächsten Woche entweder nur noch die Lidhaare auszuzupfen und die Augenbrauenhaare dafür konsequent wachsen zu lassen oder umgekehrt oder nur die linke Seite auszuzupfen und dafür die rechte wachsen zu lassen oder umgekehrt. Sie sollte bitte das Zupfen auf der erlaubten Seite noch intensivieren, dafür aber auf der anderen Seite genauso konsequent unterlassen. Wann immer sie versehentlich im verbotenen Bereich zupfe, müsse sie zum Ausgleich doppelt so viel im erlaubten Bereich zupfen. Das Mädchen entschied sich dafür, die rechten Augenbrauen und Wimpern weiter kräftig auszuzupfen und die linken dafür wachsen zu lassen. Außerdem schlug ich ihr vor, sich eine Glaskugel vorzustellen, die ihren Kopf umgibt, sie könne entscheiden, ob diese Kugel einen Durchmesser von einem halben oder einem ganzen Meter habe oder ob sie eine andere Größe habe. Wann immer ihre Hand die unsichtbare Kugelwand durchdringt, solle sie sich ein Alarmsignal vorstellen, das ihr die Entscheidung ermögliche, die Hand nochmals zurückzuziehen. Wenn sie aber weiterhin zupfe, solle sie sich ganz auf die rechte Seite konzentrieren. Eine Weile übten wir, den Signalton möglichst genau in ihrer Vorstellung zu hören.
Nach einer Woche schickte sie mir eine E-mail und teilte mir mit, das einseitige Zupfen funktioniere gut, die Sache mit der Glaskugel aber gar nicht. Was sie tun könne, um dies zu verbessern? Ich schrieb zurück, sie könne einen Papierstreifen über den Spiegel kleben, genau auf ihrer Augenhöhe. Nach Wochen kam sie wieder in Therapie und hatte konsequent die eine Seite gezupft und die andere wachsen lassen. Ich gab ihr wieder mehrere Möglichkeiten zur Auswahl, was sie als nächstes üben könne. Sie könne sich zum Beispiel die Armhaare zupfen oder probieren, sich Zähne zu ziehen. Oder sie könne sich die Brauen wachsen lassen und eine Wimpernseiten auzupfen oder auch umgekehrt die Wimpern wachsen lassen und die Haare der einen Braue entfernen. Sie entschied sich schließlich dafür, diesmal genau die andere Seite auszuzupfen und dafür diejenige wachsen zu lassen, an der sie vorher gezupft hatte.
Nach weiteren zwei Wochen kam sie wieder und berichtete, sie habe noch an zwei Tagen der Woche etwas an den Haaren gezupft, ansonsten aber beide Seiten wachsen lassen. Ich erklärte etwas irritiert, dies entspreche nicht ihrer Vereinbarung, und ich hätte eigentlich erwartet, dass sie sich an unsere Absprache halte. Da sie nun aber das Programm von sich aus geändert habe, sei zu überlegen, wie wir jetzt fortfahren könnten. Von mehreren Möglichkeiten wählte sie die, an einem statt an zwei Tagen der Woche zu zupfen und dies nur zu den ungeraden Stunden zu tun (also in den sechzig Minuten ab 7, 9 11, 13 Uhr und so weiter). Da aber dürfe sie an dem betreffenden Tag nach Herzenslust zupfen. Ich erklärte, ich sei etwas enttäuscht, da ich gehofft hätte, an ihr gutes Geld zu verdienen und sie zu schnelle Fortschritte mache. Ich entließ sie nach einer halben Stunde (und einem halbierten Honorar für mich) und schlug ihr vor, sich Zeit zu lassen…