Eines Morgens sagte der alte Geschichtenerzähler zu seinem Schüler: „Wie du gehört hast, wird heute der König in unserer Stadt zu Gast sein. Ich habe einen Brief erhalten, dass er von meiner Kunst erfahren habe und nun auch selbst eine Probe derselben hören will. Der König ist in großer Sorge, denn der Herrscher eines Nachbarlandes fordert von ihm eine persönliche Entschuldigung für ein paar Grobheiten, die er in Wahrheit nie begangen hat. Unser König kann diese Entschuldigung nicht aussprechen, ohne sich vor unserem Volk und allen Nachbarvölkern zu entblößen. Wird er sich aber nicht entschuldigen, so droht jener andere Herrscher mit seiner starken Armee unser Land zu verheeren. Was soll unser König nun tun? Entschuldigt er sich, so verliert er den Respekt seines Volkes und seiner Nachbarvölker, ja womöglich den Respekt vor sich selbst. Entschuldigt er sich nicht, so nimmt dies der andere Herrscher zum Vorwand für einen Krieg. Dann verliert unser König sein Land und vielleicht sein Leben, und unser Volk stürzt in ein tiefes Unglück. Ich soll mich nun gegen Mittag im Rathaus einfinden, um auch ihm eine Geschichte zu erzählen, die ihm bei seiner Entscheidung hilfreich sein kann. Ich fühle mich heute schwächer als je zuvor und möchte, dass du mich dorthin begleitest.“
Der Weg in die Stadt erschien dem Schüler länger als sonst. Oft mussten sie anhalten, damit sein Lehrer Kraft schöpfen konnte, doch schließlich kamen sie an. Im Rathaus wurden sie zum König und den Würdenträgern der Stadt geleitet und mit ihnen an einen großen Tisch gesetzt. Nachdem verschiedene hohe und wichtige Personen gesprochen hatten, wurde auch der Geschichtenerzähler um ein Wort gebeten. Er sagte:
„Es lebte in unserer Stadt ein bekannter Mann, der sollte einst vor vielen Menschen und gar vor dem König eine Rede halten. Nun sah er sich in der Runde um und fand dort eine solche Übermacht an klugen und gelehrten Menschen, dass er sich gar nicht mehr klug zu sein dünkte und vergaß, wie er sich sonst selbst zu helfen wusste und sich am liebsten in den Erdboden verkrochen hätte. Doch das war nicht möglich. Was tat dieser Mann?“
Mit diesen Worten verstummte der Alte. Verzweifelt fragend blickte er seinen Lehrling an und schwieg. Der junge Mann ergriff das Wort und sprach:
„Er verfiel in Schweigen. Er ließ seinen Schüler für sich reden. Der richtete dem König und jener Übermacht an gelehrten Leuten alles aus, was sein Meister ihnen sagen würde, hätte es ihm nur nicht die Stimme verschlagen. Der Schüler sagte: ‚Mein Lehrer lässt euch um Entschuldigung bitten, dass er die Worte, die ihr zu hören wünscht, nun leider nicht selbst an euch richten kann. Doch lässt er mich für ihn sprechen. Es tut meinem Meister sehr leid.’ Die Leute hörten den Schüler für seinen Meister reden. Keiner konnte sagen, ob dieser in Wahrheit die Worte wiedergab, die sein Meister an jene Übermacht hatte richten wollen, doch keiner konnte es auch bestreiten, da jener Meister weder ein Zeichen der Zustimmung noch des Widerspruchs von sich gab.“
Der Schüler hatte seine Rede beendet. Die Menge der Leute blickte ihn und seinen Lehrer verwirrt an. Dann lachten einige, andere klatschten, und es herrschte eine merkwürdige Spannung im Raum. Der Bürgermeister ließ die nächsten Redner aufrufen. So verging der Tag mit weiteren Festlichkeiten, und schließlich gingen alle auseinander. Der König aber ließ noch an demselben Tag Eilboten in den Palast und in alle Städte des Landes schicken mit der Nachricht: „Morgen Mittag um zwölf Uhr wird der König aus gesundheitlichen Gründen abdanken und seinen Sohn als Nachfolger einsetzen. Die traditionelle Rede des Königs zur Übergabe von Zepter und Krone entfällt wegen seiner augenblicklichen Erkrankung. Sein Sohn wird für ihn sprechen und wahrheitsgemäß alles ausrichten, was sein Vater ganz bestimmt sagen würde, wenn er selbst im Stande wäre, nun noch ein letztes Mal als König des Landes zu sprechen.“ Der König wusste wohl: Die Leute am Hof würden sehr verwundert sein über diese merkwürdige Botschaft. Doch auch der Herrscher seines Nachbarlandes würde nicht wohl entscheiden können, wer nun am Ende was gesagt, geschweige denn, gemeint hätte.
Auf dem Heimweg wirkte der Meister müder als sonst. Er sagte zu seinem Schüler: „Für morgen erwarte ich vor meinem Haus sehr viele Leute, die gerne eine Geschichte von mir hören möchten. Ich kann ihnen diese Geschichte jedoch unmöglich erzählen. Sprich du für mich.“ Der Schüler sagte es seinem Meister zu.
Als der Schüler am anderen Morgen aufgestanden war und sich gewaschen und angezogen hatte, schaute er auch nach seinem Meister. Der lag in seinem Bett und war tot.
„Was soll ich jetzt tun?“ fragte er sich entsetzt. Er schaute aus dem Fenster und wurde noch bestürzter: Eine gewaltige Zahl von Menschen strömte auf das Haus zu, eine unübersehbare Menge. Er trat vor die Tür und sprach die ersten an, die da kamen: „Was wollt ihr hier?“ „Dein Meister hat unserem Land den Frieden gerettet – oder du und dein Meister. Wir möchten euch unseren Dank sagen. Auch möchten wir den Meister bitten, uns noch eine seiner Geschichten zu erzählen.“
Der junge Schüler schüttelte den Kopf. „Der Meister ist tot. Er hat mich gestern noch gebeten, dass ich heute an seiner Stelle zu euch spreche.“ „Aber weißt du denn auch, was der Meister uns heute sagen wollte?“ fragten die Leute. Der Schüler nickte. „Jedes einzelne Wort.“
Geschichte aus S. Hammel: Der Grashalm in der Wüste