„Immer wieder habe ich denselben Traum. Ich gehe eine staubige Straße entlang. Plötzlich kommt mein Bruder um die Ecke, der doch schon lange gestorben ist. Ich bin überrascht, ihn wiederzusehen, Ich laufe ihm entgegen, wir umarmen uns. Er fragt mich, wo unser jüngerer Bruder ist, und dann erschrecke ich, weil ich es nicht weiß. Ich weiß nicht, wo er hingekommen ist, was aus ihm geworden ist, ob er noch lebt! Dann wache ich auf, mein Herz klopft ganz furchtbar, und ich kann nicht mehr schlafen. Ich wünsche mir so sehr, dass meine Träume irgendwann einmal aufhören!“
„Wenn Sie wieder nachts Ihren verstorbenen Bruder treffen und er Sie nach dem anderen Bruder fragt, dann – sagen Sie Ihrem Traum-Ich bitte einen Gruß! – soll Ihr innerer Regisseur den Traum ein wenig verändern.
Zunächst soll er die Begegnung im Traum als einen Besuch Ihres Bruders aus dem Himmel sehen, ein Zeichen, dass er bei Ihnen ist, nur eben auf der anderen Seite. Er ist da, Sie können sich begegnen, in der Tiefe der Seele, im Traum.
Dann soll Ihr Traum- Ich Sie daran erinnern, dass Sie Ihren Bruder um etwas bitten: Er soll im Himmel nach dem verschollenen Bruder suchen und Sie auf der Erde. Entweder Ihr jüngerer Bruder ist hier oder dort. Also sollte einer von Ihnen ihn finden, und der der ihn gefunden hat, soll es dem anderen nachts im Traum sagen und für Gewissheit sorgen, wo ihr Bruder lebt, im Himmel oder auf der Erde.“
Die Geschichte entstand im therapeutischen Gespräch mit einem Kriegsgeflüchteten, der den einen Bruder im Heimatland verloren hatten und vom anderen nicht wusste, ob er noch lebte. Im Traum begegnete er regelmäßig seinem verstorbenen Bruder, vor allem aber belastete ihn, dass er nicht wusste, was aus seinem anderen Brudergeworden war. Die Geschichte trug dazu bei, dass er keine Alpträume mehr hatte, innerlich zur Ruhe kam und sich auf seine Ausbildung konzentrieren konnte. Trost in Trauer wird möglich, wenn wir beim Gedanken an verstorbene Menschen den Blick ausrichten auf etwas, was bleibt oder kommt statt auf etwas, was verloren ist. Seit Jahrtausenden werden in allen Kulturen verstorbene Menschen nicht als „weg“ sondern als „woanders“ bzw. „unsichtbar hier“ gesehen. Wenn dies gelingt, können wir auch verschollene Menschen mit neuen Augen betrachten, eben als solche, die in jedem Fall für uns weiter da sind, sei es in der sichtbaren oder unsichtbaren Welt.
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Die Starre lösen„.