“Hört das denn jemals auf?”, fragte sie mich. Immer wieder wurde sie von furchtbaren Erinnerungen überschwemmt. Als ob es just in diesem Augenblick passierte, erlebte sie noch einmal die furchtbare Gewalt, die ihr widerfahren war. “Stell dir vor, jemand wirft einen Stein ins Wasser. Von dem Ort aus, wo er aufgeschlagen ist, breiten sich Wellen aus, erst sehr hohe, dann hohe, dann mittelhohe, dann etwas weniger hohe, dann noch weniger hohe, dann immer flachere. Wie lange dauert es, bis keine Wellen mehr da sind?” “Das ist eigentlich nie, die Wellen werden ja nur immer kleiner.” “Und was siehst du von den Wellen, wenn du eine Stunde später auf das Wasser schaust?” “Dann sehe ich keine Wellen.” “Ich glaube, so ist es mit dem Schmerz. Man kann vielleicht nicht sagen, dass er zu einer bestimmten Zeit aufhört. Aber mit jeder Welle verbraucht sich etwas von seiner Kraft. So wird er wird immer weniger und immer weniger…”
Im Rahmen einer Therapie können immer mehr traumatische Erinnerungen so verarbeitet werden, so dass sie immer weniger Starre, Betäubung, Angst oder Körpersymptome erzeugen. Manchmal kann dieser Prozess recht schnell gehen, gelegentlich zieht er sich aber auch über eine lange Zeit, so dass man nicht von einem bestimmten Zeitpunkt sprechen möchte, ab dem der Prozess als abgeschlossen gelten kann. Auch Trauerprozesse haben die Neigung, schier endlos zu sein – aber die Intensität des Erlebens schwächt sich immer mehr ab und nach einer gewissen Zeit kann das Mutmachende und Helle zunehmend in den Vordergrund treten. Die Geschichte kann eingesetzt werden, um anzuerkennen, dass manche dieser Prozesse lange dauern – und die Belastung sich dennoch so abschwächt, dass viel Grund zur Hoffnung besteht.
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Geduld und Zuversicht im Überwinden“.