Es ist erstaunlich, dass wir heute die Nachfahren der Wölfe dafür einsetzen, um Menschen und sogar Schafe zu beschützen. Wissenschaftler nehmen an, dass diese Entwicklung bis in die Steinzeit zurück reicht. Damals haben die Menschen ihre Abfälle auf einem Müllplatz außerhalb ihres Lagers entsorgt, nicht zu weit, um sich lange Wege zu ersparen, aber auch nicht zu nah, wegen des Gestanks und der Gefahr von Infektionen. Auf den Abfall kamen auch tierische Abfälle, und dafür interessierten sich die Wölfe. Die Wölfe begannen, die Fleischreste als Geschenke der Menschen aufzufassen, während die Menschen sich freuten, dass die Wölfe den Haufen sauber hielten, Bären vom Lager fernhielten, die Menschen vor Gefahr warnten und sie schließlich sogar mit Zähnen und Klauen gegen Angriffe feindlicher Stämme verteidigten. So wurde es zu einer Mutprobe für junge Männer, einem Wolf das Fleisch mit der bloßen Hand zu reichen. Oder sollen wir sagen: Es wurde eine Mutprobe für junge Wölfe, das Fleisch aus der Hand eines Menschen zu nehmen? Der Bann war gebrochen: Die Wölfe verteidigten mit noch größerer Treue die Menschen, und die Menschen fütterten und streichelten die Wölfe. Man sagt, die Menschen hätten die Wölfe zu Hunden gemacht. Vielleicht haben die Wölfe uns aber auch zu den Menschen gemacht, die wir sind: Womöglich trug es zur Möglichkeit bei, sesshaft zu leben, dass die Wölfe (und später die Hunde) sie gegen Überfälle nomadisch lebender Gruppen geschützt haben. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“, hat ein Philosoph gesagt. Aber der Wolf ist nicht böse. Die Menschen der Steinzeit wussten das; die Späteren haben es vergessen. Erst jetzt haben wir begonnen, ihn mit neuen Augen zu sehen.
Die Beziehung zwischen Menschen und Wölfen hat mehr Facetten als wir auf den ersten Blick erkennen. Die Interessenlagen sind in komplexer Weise miteinander verschränkt. So ist es auch mit unseren Beziehungen zu Familienmitgliedern oder auch zu unseren inneren Impulsen, die abwechselnd als förderlich und beschützend oder als bedrohlich und zerstörerisch erlebt werden können. Die Geschichte kann eingesetzt werden, wo Menschen sich im Umgang mit Treue und Wut, überhaupt mit ihren Gefühlen gegenüber Familienmitgliedern zwiespältig und zerrissen fühlen oder ihr Gefühlsleben verhärtet haben. Der Blick auf die Wölfe kann dazu beitragen, authentisch und wertschätzend mit eigenen aggressiven Impulsen umzugehen und dadurch Gefühle von Scham und Schuld zu reduzieren.
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Ein neuer Blick auf scheinbar schlechte Reaktionen„.