Vor langer Zeit, im Reich der alten Chinesen, gab es einen berühmten Handelsweg für Seide, der war viele tausend Kilometer lang. Man nannte ihn die Seidenstraße. Da zogen Pferdekarawanen von China übe Indien bis nach Europa, um mit kostbarer Seide und Porzellan zu handeln. Später entwickelten sich andere Handelswege; man transportierte die Güter mit Schiffen, Flugzeugen und Eisenbahnen. Viele wissen nicht mehr, wo diese Straße einst verlief und was sie den Menschen damals bedeutete. Die aber, die da wohnen, wo die Straße entlanglief und – wenn auch von vielen vergessen – heute noch dort verläuft, die wissen genau, was es mit dieser Route auf sich hat. Sie sind stolz darauf, an der Seidenstraße zu wohnen, auch, wenn es andere Menschen gibt, die noch nicht einmal wissen, was die Seidenstraße ist, ja, die vielleicht noch nie davon gehört haben mögen. Und manchmal erzählen sie davon, dass man in stillen Nächten noch das Klappern der Fuhrwerke und das Wiehern von Pferden hören kann.
Ich stelle mir vor, wie so eine Straße aussehen würde zwischen deiner alten Heimat und dem Ort, wo du jetzt wohnst, vielleicht entlang der Strecke, auf der du hergekommen bist oder auf einer ganz anderen Route. Ich stelle mir vor, dass darauf unsichtbare Leute wandern, vielleicht Feen, Elfen, Zwerge, oder Boten, die du zu deinen Verwandten dort schickst, und sie schicken sie zurück zu dir.
Wenn du dir vorstellst, der Ahmad (Name des Klienten), der Sehnsucht hat, könnte in der Nacht als Traumbild von sich selbst auf dieser Straße reisen, ganz langsam zu Fuß oder mit Lichtgeschwindigkeit oder so etwas dazwischen: Auf dem Weg würden ihm die anderen begegnen, die unsichtbaren Leute, die Traumbilder von seinen Brüdern, Schwestern, Eltern, Großeltern, die diese ihm entgegengeschickt haben, um ihn zu empfangen und ihn nach Hause zu geleiten.
Zuhause angekommen: Wenn du dir vorstellst, wie sie feiern, wie die Musik erklingt, wie sie tanzen… Wenn die Träumenden sich treffen, ist es, wie im Himmel: Zeit spielt keine Rolle, und eine Stunde kann so viel bedeuten wie eine Ewigkeit. Dann, bei der ersten Morgenröte ist es Zeit zurückzukehren. „Ich will nicht weggehen. Kann ich nicht bleiben?“ fragst du. Die anderen wiegen den Kopf. „Morgen treffen wir uns wieder.“ Sie geleiten dich zurück – den Ahmad, der du bist, wenn du träumst – auf dem Weg der unsichtbaren Seidenstraße. Du kommst zurück, doch all das bringst du mit: Den Gesang, den Klang der Instrumente, die schönen Gewänder, das köstliche Essen, die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, geleiten dich in den Tag. Es ist wie im Ramadan: Wenn die Sonne heiß brennt, musst du tapfer sein. Sind ihre Strahlen verglommen, dann ist die Zeit, wo man ißt und trinkt. Morgen, im Schlaf, wird wieder getanzt.
Die “unsichtbare Seidenstraße” kann dazu beitragen, Menschen, die von ihren Angehörigen getrennt leben müssen, eine erfüllte innere Verbundenheit erleben zu lassen. Es ist die Regel, dass wichtige Angehörige die meiste Zeit nicht physisch bei uns sind, sondern als anwesend imaginiert werden. Nicht die Trennung als solche, sondern die von Menschen oder dem Schicksal auferlegte, unfreiwillige Trennung wird als Belastung erlebt, insbesondere, wenn wir sie als Trennung auf unbestimmte Zeit oder “für immer” ansehen.
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Zugehörigkeit erleben lassen„.