„Ich bin das gefährlichste Tier überhaupt! Alle haben Angst vor mir“, sagte der Tiger. Wenn er fauchte, zitterten die Tiere ringsumher. Sie fürchteten ihn, und sie bewunderten ihn. Doch wenn er nachts in seinem Gehege lag und keinen Schlaf fand, dachte er: „Ich bin das einsamste Tier überhaupt”. Dann schweiften seine Gedanken weit in die Vergangenheit und in die Ferne. In einer mondhellen Nacht waren Männer aus dem Dorf gekommen. Sie hatten seinen Vater und seine Mutter erschossen und ihre toten Körper auf einem Lastwagen weggefahren. Am anderen Tag kamen zwei Wildhüter, untersuchten die Spuren des Lastwagens und die Stelle, wo die toten Körper gelegen hatten. Sie redeten aufgebracht, und schließlich fanden sie in einem Gebüsch – ihn. Klein, wie er war, packten sie ihn, schoben ihn auf die Ladefläche des Wagens, schlossen die Heckklappe und fuhren davon.
Das Quietschen der Gehege Tür ließ den Tiger aus seinem Traum erwachen. Endlich Essen? Tatsächlich, durch die geöffnete Tür stolperte ein großer Geißbock in sein Gehege. „Du solltest dich fürchten“, sagte der Tiger. „Ich bin das gefährlichste Tier überhaupt.“ Der Geißbock aber senkte stumm seine Hörner und spannte seine Muskeln, als wollte er den Tiger aufspießen, wenn er näherkam. „Sehr dramatisch. Ich bin beeindruckt“, grinste der Tiger. Er schwieg eine Weile, bis er bemerkte, dass er tatsächlich beeindruckt war, nicht von der Gefährlichkeit des Geißbocks, aber von seinem Willen, auch in der aussichtslosesten Lage alles zu tun, was er konnte, um sein Leben zu verteidigen. „Du bist mutig. Respekt“, murmelte der Tiger, und dieses Mal meinte er, was er sagte. Er legte sich auf den Boden und betrachteten den Geißbock, der immer noch in Angriffsstellung vor ihm stand. Irgendwann war der Tiger eingeschlafen. Als er wieder erwachte, sah er, dass der Geißbock inzwischen ebenfalls dalag und schlief. „Du bist sehr unvorsichtig“, sagte der Tiger. „Der Tiger ist das gefährlichste Tier überhaupt.“ „Der Tiger ist das einsamste Tier überhaupt“ antwortete der Geißbock, die Augen nur einen spaltweit geöffnet. „Was hast du da gesagt?“ „Du bist das unglücklichste, einsamste Tier, das ich mir vorstellen kann.“ „Das sagst du nicht noch einmal!“ „Die anderen haben Angst vor dir, aber ich erkenne dich. Du bist so allein. Ich bin ein Stern in deiner Nacht, und wenn du mich gefressen hast, ist es wieder dunkel“ Dem Tiger war nun vollends der Appetit vergangen. Er schaute auf den Boden, wo sich unter seinen Augen kleine Pfützen bildeten.
Die Geschichte nimmt Bezug auf eine Freundschaft, die ein Tiger und ein Geißbock in einem Zoo in Sibirien schlossen (www.tierwelt.ch/news/zoo/tiger-und-geissbock-schliessen-freundschaft).
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Aussöhnung, Güte, Selbstversöhnung„.