“Das wird jetzt mal für ein paar Minuten unangenehm”, sagt die medizintechnische Assistentin. Sie drückt auf einen Knopf. “Ich weiß schon, was auf mich zukommt. Es wird grauenhaft”, möchte ich antworten, sage aber nichts. Die Manschette, die den Tiefenvenendruck meines linken Beines messen soll, füllt sich mit Luft. Ein Bar, zwei Bar, drei Bar, ich weiß nicht wieviel Druck sie aufs Bein geben. Es ist jedenfalls scheußlich.
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Wenn ich mich auf das konzentriere, was ich höre, statt auf das, was ich fühle, konzentriert mein Gehirn meine Aufmerksamkeit in einem anderen Zentrum. Wo das Hören im Vordergrund steht, kommt das Fühlen in den Hintergrund. Ein bisschen so, als ob jemand aus dem Zimmer mit der Baustelle hinübergeht in ein anderes Zimmer, wo es leiser ist und weniger Staub in der Luft hängt. Könnte das etwas helfen? Ich konzentriere mich auf die leisen Geräusche des Ventilators, der Heizung, auf Wortfetzen, die vom Flur her an mein Ohr dringen. Tatsächlich, so ist es besser. Was kann ich noch hören? Draußen fährt ein Auto vorbei… Mein Atem wird ruhig, ich fange an, mich zu entspannen. Ich werde neugierig: Das ist schon recht gut… kann es noch besser werden?
Ein weiterer Gedanke schießt mir durch den Kopf: Wenn ich eine Leiche wäre, würde mich die Manschette überhaupt nicht stören. Also ist es nicht der Druck auf dem Bein, sondern die Reaktion des Körpers, die die Missempfindungen erzeugt. “Lieber Körper”, sage ich in Gedanken. “wir haben herausgefunden, dass nicht die Manschette, sondern deine Reaktion darauf, die Unannehmlichkeit erzeugt. Wenn du das erzeugen kannst, kannst du das bestimmt auch abstellen… bitte?” Tatsächlich, der Körper stellt die störenden Gefühle ab. “Danke, lieber Körper! Du bist großartig!”, denke ich und lächle ihm zu.
Ein dritter Gedanke schießt mir durch den Kopf. “Lieber Körper, ich traue mich fast nicht, das zu sagen. Ich bin dir wirklich dankbar und möchte nicht reden wie das unzufriedene Eheweib in der Geschichte vom Fischer und seiner Frau. Aber, wenn es nicht zu verwegen ist, dass ich dich frage: Ich habe mich immer gefragt, ob man Schmerzen und Missempfindungen auch in Behagen transformieren kann. Lieber Körper, kannst du das? Und wenn ja, würdest du das für mich tun?”
Wonne und Behagen breiten sich in meinem Bein aus. Ein bisschen Zeit bleibt mir noch, um tief berührt meinem Körper zu danken und das Wohlgefühl in meinem Bein zu genießen.
Ein Piepton signalisiert, dass die Messung zu Ende ist. Ein Zischen – der Druck wird aus der Manschette herausgelassen.
“Sie haben’s geschafft”, sagt die Medizintechnische Assistentin. “Schade, schon?” möchte ich antworten, sage aber nichts. Wie sollte ich ihr erklären, was ich gerade erlebt habe?
Wenn das mit den Schmerzen des Körpers möglich ist – könnte es für die Schmerzen der Seele etwas Ähnliches geben?
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie das Nashorn Freiheit fand. 120 Geschichten zu Krise und Entwicklung.“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel “ I Der Einzelne: Bewältigung individueller Krisen und Entwicklung der Persönlichkeit“.