Autobahnkarambolage

Quelle: Pixabay (https://pixabay.com/de/vectors/wagen-unfall-versicherung-fahrzeug-3639526/)

An einem schönen Herbsttag vor vielen Jahren… Die Autobahn glich einem Strom von Autos, die zügig dicht an dicht ihrem Ziel entgegenrollten. Rechts von mir schienen die Lastwagen langsam nach hinten zu treiben, während sich links von mir die Fahrer, die versuchten, ein wenig schneller voranzukommen, allmählich nach vorne arbeiteten. Und ich mittendrin, ruhig und konzentriert in der Mitte. Bremslichter – keine Ahnung warum, der Wagen vor mir kommt auf mich zu! Ich bremse… ich glaub’ ich schaff’s nicht mehr! Doch, doch! Dicht hinter seiner Stoßstange kommt mein Wagen zum Stehen! Aufatmen, geschafft! Das Auto im Rückspiegel ist aber schnell… rumms! Es schiebt mich auf den Vordermann. Dann stehen alle still.     

Was macht man denn in einem solchen Fall? Aussteigen, mitten auf der Autobahn, während die Autos auf der rechten und linken Spur eilig vorbeirauschen? Kein schöner Gedanke, aber als ich sehe, dass die anderen Fahrer aussteigen und sich miteinander unterhalten, verlasse ich meinen Wagen auch. “Sechs Wagen sind es. Keiner ist verletzt”, höre ich jemanden sagen. “Das ist doch die Hauptsache!” Seltsam gelassen, fast heiter wirken die Leute, die auf der Autobahn herumschlendern. “Kalt hier!” meint einer. “Das ist der Schock”, will ich antworten, sage dann aber lieber: “Haben Sie eine Jacke? Ziehen Sie sich doch was an…” “Ich kann ja eigentlich fahren. Mein Auto ist nicht beschädigt”, sagt der Mann vor mir. “Nein, bleiben Sie bitte! Es ist mir wichtig.”    

Die Polizei kommt. Der Fahrer hinter mir sagt, er habe noch gehalten, er sei auf mich geschoben worden. Ich glaube, er lügt. Wahrscheinlich bekommt jetzt der Fahrer des vierten Autos die Schuld.    

“Geht Ihr Auto noch? Dann können Sie jetzt fahren”, sagt schließlich ein Polizist zu mir. Das Auto klappert, aber es fährt noch. Ich komme damit nach Hause.     

Einige Tage später: Post von der Polizei. Sie sagen, ich bin unschuldig. Was heißt das eigentlich? Alles richtig gemacht, es gibt nichts zu lernen, nichts auszuwerten? Und wenn ich etwas daraus lernen wollte, obwohl die Hüter des Gesetzes finden, ich habe nichts Unrechtes getan? Brauche ich das, kann ich das?     

Wenn ich etwas lernen wollte, dann wäre es das: Hätte ich nach vorne mehr Abstand gehalten, hätte der Wagen hinter mir mich wahrscheinlich nicht auf das vordere Auto geschoben. Vielleicht hätte auch der Wagen hinter ihm mehr Zeit zum Bremsen gehabt, und vielleicht hätte dann die Karambolage gar nicht stattgefunden. Auch wer ein Unglück, formal betrachtet, nicht verursacht, kann es möglicherweise verhindern.  Nach den Regeln des Gesetzes trug ich keine Verantwortung. Nach den Regeln kluger Umsicht allerdings trage ich Verantwortung für das, was ich gelernt habe – beim nächsten Mal auf der Autobahn.   

Die Geschichte kann verwendet werden, um zu verdeutlichen, welche Chancen für den einzelnen und alle Mitbeteiligten darin bestehen, aus unglücklichen Situationen auch dann zu lernen, wenn man (in der öffentlichen oder persönlichen Wahrnehmung) nichts „falsch gemacht“ hat.  

Diese Geschichte stammt von mir, Stefan Hammel, und ist in dem Buch „Wie das Nashorn Freiheit fand. 120 Geschichten zu Krise und Entwicklung.“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel “ III Das Ganze: Krisenbewältigung und Entwicklung in einer lokal und global vernetzten Gesellschaft “.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert