„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so heißt es in den ersten Worten des Grundgesetzes. Unscharf bleibt, ob gemeint ist, sie dürfe nicht angetastet werden, oder sie könne gar nicht angetastet werden, denn sie bleibe im Innersten eines Menschen unversehrt erhalten, egal, was er erlebt. Würde als etwas dem Menschen Innewohnendes, von Menschen nicht Entziehbares, ist ein versteckt theologischer Begriff.
Der Begriff hat einen Vorläufer in dem jüdischen und später christlichen und muslimischen Gedanken, der Mensch sei als „Gottes Ebenbild“ geschaffen, als ein Abbild der Schöpferkraft, der Heiligkeit, Ehrwürdigkeit und auch der erschütternden Macht des Großen, Ganzen, aus dem alles geworden ist.
Wenn wir behaupten, dass jeder Mensch, weil er Mensch ist, eine unverlierbare Würde hat, fordert das von uns, dass wir jedem Menschen Respekt entgegenbringen. Gleich, wie sehr uns ein Mensch als Täter oder auch als Opfer entgegentritt, hat er einen Anspruch auf Achtung und Wertschätzung. Wenn es uns nicht gelingt, ihm diese entgegenzubringen, betrachten wir das als unsere Grenze, und nicht als Begrenzung seiner Person.
Jeden Menschen unter dem Blickwinkel seiner Würde zu sehen und ihm Achtung entgegenzubringen, bedeutet, dass wir die Menschen unter dem Blickwinkel sehen, welches gute Potential in ihnen auf seine Entfaltung wartet – vielleicht jetzt noch verschüttet und versteckt – und welche Vision es für ihre Entwicklung gibt.
Respekt vor den Menschen, denen wir begegnen, lässt sich zuweilen gut vereinbaren mit Respektlosigkeit gegenüber ihren Überzeugungen, wenn diese Überzeugungen sie in ihrer Entwiclung hemmen und sie in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten einschränken. Wir können einem Menschen ein hohes Maß an Achtung entgegenbringen und gleichzeitig seine Glaubenssätze unter Beschuss nehmen. Aussagen eines Menschen, er mache sich „immer alle Erfolge selbst wieder kaputt“, er sei nun mal krank, „habe“ eine Depression oder sei eben psychisch labil, können mit Humor und Ironie, mit frechen Fragen und verunsichernden Behauptungen erschüttert werden, um den Platz vorzubereiten für neue Überzeugungen. Opferhaltungen und Vorwürfe an die Schuldigen können untergraben werden, um eine neue Haltung der Selbstverantwortung und der Zukunftsorientierung zu erzeugen. Mitleid dient selten der Würde eines Menschen, und Mitgefühl darf nicht dahin führen, dass ein Mensch Vorteile daraus zieht, seine Lage für unveränderlich zu halten und andere dafür verantwortlich zu machen.
Wer die Würde eines Menschen achtet, wird sich nicht lange damit aufhalten, ihn für erlittenes Unrecht zu bedauern, sondern wird bald beginnen, ihm die Verantwortung für ein neues Leben zuzutrauen und sich mit ihm dorthin auf den Weg zu machen.