Nach einer Pause, bedingt durch meinen Umzug, melde ich mich wieder zurück. Und mache da weiter, wo ich aufgehört habe., bei Wertbegriffen, die für die Beratung und Therapie wichtig sind, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht so scheinen mag. Vergebung ist ein altes Wort, das nicht mehr oft verwendet wird. Auch in der Therapie ist der Begriff eher in Vergessenheit geraten. Ich gebracuche den Begriff auch eher selten, weil er etwas groß und pathetisch klingen mag, und manchmal ist leichter, mit den Klienten viele kleine, vielleicht gar unscheinbare, Schritte aneinander zu reihen, bis man sich unversehens gemeinsam am Ziel findet.
Oftmals, so denke ich, geht es in der Therapie darum, zu lernen, das Recht auf Zorn und Groll, das Recht auf Wiedergutmachung, das Recht auf eine Entschuldigung oder Sühne loszulassen und darauf zu verzichten, Gerechtigkeit (wie jeder selber sie versteht, wieder einzufordern. Vergebung kann auch bedeuten, nicht in der Vergangenheit, die niemand ändern kann, zu kreisen und Forderungen zu stellen, die sich nur durch eine Zeitreise in frühere Tage einlösen ließen. Oftmals geht es gar nicht um die moralische Frage, dass es „gut“ sei, anderen zu vergeben. Oftmals ist das wichtigste an der Vergebung, einen selbstzerstörerischen Prozess zu beenden; denn derjenige, dem vergeben werden soll, hat möglicherweise mit der behaupteten Schuld gar kein Problem – oder ist womöglich selbst gar nicht mehr am Leben. Mit der Vergebung hat es aus therapeutischer Sicht aber die folgende Bewandnis:
Als wir Säuglinge waren, haben wir in uns unwillkürlich Abbilder aller Dinge und Personen geschaffen, die wir wahrgenommen haben. Und die Personen, die für uns wichtig waren, bekamen ein Abbild von besonderer Intensität. Man könnte auch sagen, dass unsere Wirklichkeit bis heute nur aus diesen Abbildern besteht. Denn alles, was wir sagen können über die Welt ist, dass wir reden über da, was die Welt in uns an Bildern und Gedanken erschaffen hat.
Die Abbilder wichtiger Menschen jedenfalls haben sich in uns eingeprägt mitsamt dem Verhalten dieser Menschen untereinander und uns gegenüber. Und aus ihrem Verhalten haben wir nach und nach geschlossen, wer wir sind. Identität nennt man das, wenn ich ein Bild von mir habe, das mit dem Bild das andere von mir haben zu einem hohen Grad zur Deckung kommt – oder auch, wenn mein Bild von mir gestern und heute in etwa dasselbe ist, relativ unabhängig davon, wer und was mir gerade begegnet. Die Bilder der Personen, die in meinem Leben wichtig sind, nennt man auch Introjekte, das heißt „hineingeworfene“ Teilpersönlichkeiten. Denn meine Identität besteht zunächst aus dem innerlich abgebildeten Sozialsystem der „inneren Leute“, die die äußeren Leute widerspiegeln. Eine stabile Identität bedeutet eine hohe Identität (also ein hoher Deckungsgrad) im Bereich der Ideen, die meine inneren Figuren darüber haben, wer ich bin. Natürlich bilden sich irgendwann auch Persönlichkeitsanteile (oder Teilpersönlichkeiten) aus, die nicht genau einer bestimmten äußeren Person entsprechen. Sie sind entsprungen als neue Persönlichkeitsaspekte aus der gedanklichen Diskussion zwischen verschiedenen Introjekten oder aus Einflüssen wie biographischen Erlebnissen, Medien und schwer fassbaren Zeitströmungen. Es entstehen also synthetische neue Figuren, die zu dem inneren Team meiner Persönlichkeitsaspekte mit eigenen „inneren Stimmen“ beitragen.
Wenn ich nun einem Menschen nicht vergebe, bedeutet das auch, dass einige der Persönlichkeitsanteile einander bekämpfen. Das ist ganz offensichtlich ein Schaden für die Identität der Person – und oftmals nur für sie, wie etwa dann, wenn der Mensch, dem ich nicht verzeihen will (oder, wie öfter zu hören ist, „nicht kann“), längst verstorben ist und sich mutmaßlich an meinem Groll gar nicht mehr stört. Aus Nachsicht und Verständnis eine Person im Nicht-Vergeben zu unterstützen, scheint mir fahrlässig – und zwar nicht, weil ich den vermeintlichen Täter schonen wollte, sondern weil das Opfer erst dann aufhört, Opfer zu sein, wenn es aufhört, sich als Opfer zu sehen.
Sinnvoll ist es, nach Möglichkeiten eines inneren (und gelegentlich auch äußeren) Täter-Opfer-Ausgleichs zu suchen, also zu ringen um den höchstmöglichen Grad an gegenseitiger Anerkennung, an Respekt, an Vergebung, Versöhnung, schiedlich-friedlichem Auseinandergehen oder was immer in die Richtung zielen mag, dass die verfeindeten Persönlichkeitsanteile keine Forderungen mehr aneinander stellen – weil die Personen es auch nicht mehr tun.
Was immer dazu beiträgt, dass der innere „Täter“ nutzbar gemacht werden kann, ist nützlich, weil ein größerer Teil der Persönlichkeit aktiv sein kann und ein möglichst kleiner Teil ausgegrenzt oder eingesperrt wird. Was immer dazu beiträgt, dass das innere „Opfer“ tätig werden kann, ist wertvoll, weil es ebenfalls dazu beiträgt, dass ein möglichst großer Teil der Persönlichkeit gestaltend sein kann.
Was immer dazu beiträgt, dass es im Inneren Team möglichst keine „Täter“ und „Opfer“ mehr gibt, also, dass keine destruktiven inneren Dialoge mehr geführt werden, ist gut für die Identität. Manchmal ist dieses Ziel kaum zu erreichen. Oftmals darf es niemand fordern, weil der Weg so schwierig ist und jede Forderung eines anderen Menschen hier eine Anmaßung wäre. Trotzdem, ich bleibe dabei: Wenn möglichst alle biographisch und synthetisch entwickelten Personen in mir an einem Tisch sitzen und vertrauensvoll miteinander im Gespräch sind und alle gemeinsam handlungsfähig sind, dann ist das Ziel der Vergebung in mir erreicht.
…danke für ihre gedanken, die bei mir bewirken, dass ich weiterdenke….und ihre gedanken mit meiner wirklichkeit abgleiche…
herzliche grüße
annette
sehr gerne… freut mich… slg, stefan
hilfreich, um besser vergeben zu können ist auch immer, einen Aspekt zu finden, an der Person / Situation, die bewältigt werden soll / muss, den man schön findet, bewundert oder lieben kann, zumindest akzeptieren kann,dann ist vergeben leichter möglich/wahrscheinlich und man könnte eine positivere und lebenbejahende Sicht der Situation/Person zulassen…
z.B.: Woher soll ich wissen, was alles dazu beigetragen hat dass die Situation sich so ergab und es hätte eine Änderung des Urteils zur Folge und eine andere innere Bewertung der Situation….
LG
Vielen Dank, liebe (r) M. Wahl! Das sind sehr gute, hilfreiche Ideen, wie ich finde… natürlich gibt es kein Patentrezept, aber ich denke auch: Ein kreatives Drehen und Wenden der Situation mit dem Ziel, kraftvolle, versöhnliche neue Deutungsmöglichkeiten des Geschehens zu finden, hilft doch oft…
In mir sträubt sich etwas gegen die Idee Vergebung, auch wenn sie wie hier sehr feinfühlung und schön beschieben wird. Die Sichtweise finde ich … unvollständig. Ja, das Wort trifft am Besten, was ich gegenüber der „Idee Vergebung“ empfinde. Ich und mein Bruder wurden zum Vergeben erzogen. Aus Liebe zur Frau Mama und aus ganzen Herzen haben wir vergeben. Immer wieder. Wieso auch nicht? Dann vielleicht irgendwann Therapie, dadurch kommt man in Kontakt mit der Wut. Die Vergebung aber funkt dazwischen, schlichtet jedes Mal wieder. Wir bleiben die Täter, in unseren Köpfen. Was man uns „antat“ (tat man uns etwas an?), dass jedoch MÜSSEN wir vergeben. Das ist diese Wahrheit. Vergebung kann zu früh erfolgen. Bevor man überhaupt anzuerkennen gelernt hat, dass es etwas zu vergeben gab. Wenn ich es eines Tages schaffe, nicht mehr zu Vergeben, dann werde ich diesen Tag feiern, glaube ich. Und ich fürchte wirklich nicht, nachtragend zu sein. Aufrichtiges Desinteresse ist meiner Ansicht nach eine gute Alternative zur Vergebung. Sie beinhaltet „bei sich bleiben“ ohne den fordernden Akt des Verzeihens. Aber wer weiß… vielleicht ist auch alles ganz anders.
Jetzt weiß ich, was ich genau sagen wollte: Nicht Vergeben zu können hat vielleicht die Ursache darin, dass man die Schuld – oder sprechen wir neutraler von „Verantwortung“ – überhaupt noch nicht hat wirklich „abgeben“ können. Die Schuld wirklich von sich zu weisen dorthin, wohin sie eigentlich in einem Abhängigkeitsverhältnis hingehört, nämlich zum Erwachsenen, diese Zuweisung mit allen „Anteilen“ von sich und somit sozusagen aus ganzem Herzen ist ein äußerst schwieriger Akt – der all zu oft nicht glückt, nicht wahr? Und vielleicht stecken wir solange in der Wut fest, wie wir „unsere Schuld“ nicht wirklich abgeben können. Vergebung wäre demnach vielleicht einfach nur die andere Seite der Medaille der Schuldzuweisung.
Vielen Dank! Das klingt mir einleuchtend. Vergebung, die gefordert wird (auch von einer inneren Stimme, die eine äußere Person abbildet), funktioniert irgendwie nicht. In einem ersten Schritt müsste wohl der Kopf mit sich einig werden, dass es sich um Schuld handelt, und zwar um die eines anderen, und auch nicht um eine nachzusehende Kleinigkeit. Wenn das unstrittig ist, lässt sich besser über Vergeben oder Nicht-Vergeben sprechen.
Wenn aber eine innere (oder äußere) Stimme von Schuld spricht und die andere in den Raum stellt, es sei eine Schuld, Vorwürfe zu machen, dann ist das keine Grundlage für Vergebung.
Ich finde, es bleibt dabei: Vergebung kann man nicht fordern, auch nicht von sich selbst.