Hier ist, wie ich meine, recht spannende Geschichte. Um sie zu erzählen, muss ich aber ein bisschen ausholen. Wer das vorläufige Ergebnis zuerst erfahren möchte, kann auch den Brief am Ende dieses Artikels zuerst lesen.
Vorige Woche hatte ich eine Familie mit einem selektiv mutistischen Jungen in Therapie. Ich nenne ihn jetzt einmal Gregor. Der Junge redet nur mit seiner Familie, sowie mit einigen Schulkameraden und anderen ihm lange bekannten Personen, aber nicht mit Fremden. Und wenn wenig bekannte Personen anwesend sind, wie überhaupt in der Öffentlichkeit, flüstert er seinen Eltern etwas ins Ohr, redet aber nicht laut mit ihnen. Auf neue Erfahrungen oder Unternehmungen ohne die Anwesenheit von Eltern oder anderen Bezugspersonen lässt er sich kaum ein. Insgesamt ist er schüchtern und ängstlich, macht aber einen klugen, wachen, interessierten Eindruck und kommt auch mit dem Schulstoff gut zurecht.
Die Mutter erklärte, dass Gregor sein Problem auch selbst angehen wolle, also nicht nur auf Wunsch der Eltern in Therapie komme. Mir gab er Zeichen durch Kopfnicken, Kopfschütteln und ähnliche Gesten, was die Therapie natürlich erleichterte. Ich erzählte der Familie von dem berühmten Therapeuten Milton Erickson, der bis zum Alter von vier Jahren überhaupt kein Wort sprach. Oft äußerten Nachbarn, Bekannte und Freunde ihre Besorgnis über diesen Umstand. Seine Mutter erwiderte darauf immer nur den einen Satz: „Wenn seine Zeit kommt, wird er sprechen“. So war es denn auch. Als seine Zeit kam, da sprach er. Er hatte nur eben andere Dinge zuerst gelernt, zum Beispiel das Zuhören, Verstehen und Beobachten, und hatte sich das Sprechen für die Zeit nach seinem vierten Geburtstag aufgehoben. Eine ungewöhnliche Reihenfolge, aber warum sollten nicht manche Kinder bestimmte Dinge zu einer späteren Zeit lernen und dafür anderes schon früher können als die übrigen Jungen und Mädchen ihres Alters.
Milton Erickson wurde ein sehr guter Beobachter, ebens wie – so äußerte ich meine Annahme – dieser Junge in der Zeit seines Schweigens besser beobachten gelernt hatte, als fast jedes andere Kind in seiner Umgebung.
Milton Erickson musste allerdings das Sprechen zweimal lernen. Denn Jahre später, als er ein Schulkind war, erkrankte er an Polio. Die Lähmung war so schwerwiegend, dass er nur noch seine Augen bewegen konnte, und auch sein Körpergefühl war von der Erkrankung beschädigt worden. Man erwartete, dass er an der Kinderlähmung sterben würde, und als er überlebte, hieß es, dass er sich niemals wieder würde bewegen können. Jeden Tag setzte ihn die Familie in einen Schaukelstuhl, und er vertrieb sich die Zeit damit, die Dinge um sich möglichst genau mit den Augen zu erkunden. Er fand heraus, dass seine Schwestern Nein sagen konnten, wenn sie Ja meinten, und Ja sagen, wenn sie Nein meinten. Sie konnten einander einen Apfel anbieten und ihn dann behalten, oder es genau umgekehrt machen.
Eines Tages machte er eine merkwürdige Entdeckung: Er war gerade dabei, sich vorzustellen, wie er mit anderen Kindern herumrannte und spielte, da fiel ihm auf, dass sich sein Schukelstuhl ein winziges Stück bewegt hatte. Er fand heraus, dass die Bewegung durch seine Gedanken ausgelöst worden waren, die offenbar einen ganz kleinen, für ihn sonst nicht wahrnehmbaren, Impuls für seine Muskulatur zur Folge gehabt hatten, der sich dann weiter auf den Schukelstuhl übertragen hatte.
Der Junge folgerte, dass seine Nerven also noch ein bisschen funktionierten – vielleicht waren diese Wirkungen sogar trainierbar? Er übte von da an, sich Bewegungen vorzustellen, und zum Erstaunen aller erwachsenen konnte er sich allmählich auch wieder bewegen. Er brauchte viel Zeit, aber die hatte er ja. Ich glaube, eines Tages fiel ihm ein, dass er sich auch Körpergefühl vorstellen könnte, und dadurch vielleicht sein Körperempfinden zurückgewinnen würde. Auch dieses gelang ihm. Als er schließlich das Sprechen wieder erlernen wollte, stellte er sich (so glaube ich) nicht nur vor, wie es sich anfühlen würde, wenn er wieder spricht, sondern auch, wie seine Sprache klingen würde. Zuerst war nur die Vorstellung da: Wie sich das Sprechen anfühlen und anhören wurde, wie die anderen reagieren würde, wie er sich daran gewöhnen würde, seine eigene Stimme wieder zu hören, vielleicht wäre es am Anfang noch fremd und würde dann immer vertrauter…
Er lernte auch das Sprechen wieder, und schließlich konnte er alle Bewegungen ausführen und alles fühlen und alles sagen, was er sagen wollte. Dann ging er wieder in die Schule, holte alles Versäumte nach, ging später auf die Universität und wurde ein berühmter Arzt und Psychotherapeut.
Als ich das erzählt hatte, deutete der Junge nach oben an die Decke. Weil wir nicht wussten, was er meinte, flüsterte er seiner Mutter etwas zu, und dann ein zweites mal, lauter. Dann erlosch eine der Deckenlampen, und eine durchgeglühte Befestigungsschraube fiel herunter. „Er hat bemerkt, dass die Lampe geraucht und einen komischen Geruch verbreitet hat“, sagte die Mutter.
„Sehr gut“, sagte ich, „du bist wirklich ein ausgezeichneter Beobachter. Und du hast es deiner Mutter gesagt, und ich habe es sogar gehört“. Wenn du anfängst, mutig zu sein – oder auf eine andere Art als bisher, mutig zu sein – dann kannst du das genauso allmählich machen, wie dieser Junge Milton Erickson. Du kannst so allmählich lauter flüstern, dass deine Eltern es vielleicht gar nicht bemerken. Du kannst probieren, zu beobachten, ob deine Eltern es bemerken, wenn du am Anfang nur ein ganz kleines bisschen lauter flüsterst. Was meinst du, ist es besser, wenn sie dich dann loben, oder wenn sie so tun, als hätten sie es nicht bemerkt?“ Der Junge wiegte den Kopf und konnte sich zu keiner Antwort entschließen. „Oder sollen deine Eltern genau beobachten, wann es dir gut tut, wenn sie dich loben, und wann es peinlich ist, und sich danach richten?“ Der Junge nickte und strahlte. So beendeten wir die erste Therapiestunde.
Zwei Tage später erhielt ich von der Familie den folgenden Brief (Namen und Einzelheiten geändert):
Sehr geehrter Herr Hammel,
vielen Dank für diese Stunde. Sie haben Gregor und seiner Mutter schon sehr geholfen. Erste Ängste oder der innere Druck hat sich aufgelöst. Gregor war nach dieser Stunde total aufgedreht und erleichtert. Vor allen Dingen erleichtert. Was seiner Mutter genauso ging. Nach dieser Stunde sind wir in ein großes Einkaufszentrum essen gegangen. Stellen sie sich mal vor: Unglaublich!!! Unser Sohn hat normal mit seinen Eltern geredet. Ich habe alles, jedes Wort verstanden!!! Er hat es selbst nicht bemerkt. Nach dem Essen habe ich zu Ihm gesagt: „Gregor , du hast ganz normal mit mir geredet, ich habe jedes Wort verstanden“. Es war ihm nicht aufgefallen. Einfach toll. Danke. So locker und gelöst habe ich unseren Sohn schon lange nicht mehr erlebt.
In der Schule hat er beim Backen von Plätzchen, den Kindern deutlich gesagt, dass es ihn stört, wenn sie sich und anderen Kindern Mehl über die Haare schütten oder streuen. Er meinte: Es sei unangenehm, wenn das Mehl in die Augen kommt.
Er spielt jetzt auch die Kinder nach in der Schulklasse. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dies schon oft gemacht hat.
Zuhause geht er mehr und mehr aus sich heraus. Er kann auch ganz laut zu Hause schreien. Die Emotionen kommen nur so aus ihm heraus. Ärger, Frust und Wut sind jetzt nicht mehr so in Gregor versteckt. Was er noch nicht zeigt, ist, wie müde oder hungrig er tatsächlich ist.
Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Wir freuen uns darauf wieder zu kommen.
Mit freundlichen Grüßen,
A. S.
Das ist wirklich eine sehr schöne Geschichte…
Ich wünsche Gregor, dass er seinen Weg gehen kann.
Liebe Grüße