Ich hatte ein sechsjähriges Mädchen in Therapie, das öfter angemerkt hat: „Ich will tot sein.“ Das sagte sie, wenn sie enttäuscht war, weil sie beim Spielen verloren hatte oder weil sie ein Geschenk nicht bekam. Aber man merkte auch, dass sie dabei wirklich sehr, sehr unglücklich war. Todunglücklich, würde das Mädchen vielleicht sagen. Aufs Tot-sein befragt, hat sie erklärt, dass es im Himmel Engel und Einhörner gibt, und die Einhörner sind Pferde, die in den Himmel gekommen sind, und überhaupt ist es im Himmel viel schöner.
Ich habe das Mädchen gefragt, ob ich ihm eine Geschichte erzählen darf. Die Geschichte ging so:
In einem Land, das sich Kamark nennt, gibt es einen Wald, und darin lebt eine Herde Wildpferde. Und unter ihnen lebte ein junges Pferd, das hatte einen großen Wunsch: „Ich möchte gerne die Einhörner sehen.“ Die großen Pferde haben zu dem kleinen Pferd gesagt: Das geht nicht. Die Einhörner leben im Himmel, und da können wir jetzt noch nicht hin, erst später. Das kleine Pferd hat sich damit aber nicht zufrieden gegeben, und als ihm keines von den großen Pferden eine befriedigende Lösung sagen konnte, wie es die Einhörner treffen könnte, da ist es zur Eule gegangen. Die Eule weiß nämlich fast alles. Das Pferd hat dreimal mit dem Huf an dem großen Baum gescharrt, in dem die Eule hoch oben in einer Höhle gewohnt hat. Das ist das Zeichen zwischen den Pferden und der Eule, wenn die Pferde etwas wissen wollen. Die Eule hat rausgeguckt und hat gefragt: „Was ist los, kleines Pferd?“ „Ich will die Einhörner sehen“, hat das Pferd gesagt. „Die Einhörner wohnen im Himmel, da brauchst du ein Flugzeug“, hat die Eule gesagt. „Wie bekomme ich ein Flugzeug?“ Das kleine Pferd ließ nicht locker. Die Eule dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich habe eine Idee. Komm mit mir!“ Die Eule flog los, und das kleine Pferd galoppierte hinter ihr her. „Das wollte ich sowieso schon lange mal machen!“ rief die Eule. Sie flogen quer durch den Wald und aus dem Wald heraus und kamen schließlich zu einem Zoo. Dort flog die Eule hinein. Sie flog zum Zoowärterhaus, guckte dort hinein und wartete, bis der Wärter in eine andere Richtung schaute. Dann flog sie lautlos hinein, nahm in ihren Schnabel einen Schlüssel und flog genauso still und leise wieder heraus, hinüber zum Affenhaus. Sie öffnete den Käfig und ließ den Affen heraus. Setz dich auf das Pferd und halte dich an der Mähne fest!“, rief sie. Der Affe tat, wie ihm geheißen wurde, die Eule flog voraus und das kleine Pferd galoppierte mit dem Affen hinterher. „Wie kann ich euch das nur danken?“ fragte der Affe, als sie schließlich in dem Wald, wo das kleine Pferd wohnte, halt machten. „Bau für das kleine Pferd ein Flugzeug“, sagte die Eule, und bald machte sich der Affe ans Werk.
Einige Tage baute und hämmerte der Affe auf der großen Wiese in der Mitte des Waldes an etwas herum. Schließlich hatte er etwas geschaffen, das sah aus wie ein Pferdewagen mit einem kleinen Häuschen davor und Flügeln dahinter. In dem Häuschen gab es drei große Hebel, an denen man ziehen konnte. Der Affe ließ das kleine Pferd hinten einsteigen und stieg selbst vorne ein. Dann zog er den ersten Hebel: Der Motor begann zu tuckern. Er zog den zweiten Hebel: Das Flugzeug fuhr los und wurde immer schneller. Er zog den dritten Hebel, und das Flugzeug erhob sich in die Luft.
Immer kleiner wurden unter ihnen die Bäume, während sie höher und höher stiegen. Schließlich näherten sie sich den Wolken. „Wir können da durchfliegen, sie bestehen nur aus Nebel“, sagte der Affe, und so war es tatsächlich. Bald waren sie über den Wolken und sahen von oben, wie die Sonne auf sie schien. „Siehst du den Regenbogen?“, fragte der Affe. „Da fliegen wir durch. Der Himmel der Einhörner ist direkt hinter dem Regenbogen.“ So machten sie es. Das kleine Pferd sah zum ersten Mal in seinem Leben einen Regenbogen von unten. Er leuchtete in allen Farben gleichzeitig, so etwas schönes hatte es noch nie gesehen.
„Hinter dem Regenbogen sind die Wolken fest, wir können darauf landen“, sagte der Affe. Und so machten sie es. Das kleine Pferd schaute sich verwundert um: „Wo sind denn die Einhörner?“ „Die sind doch unsichtbar. Wir müssen sie erst sichtbar pfeifen“, antwortete der Affe. Ich kenne den Zauberpfiff.“ Und der Affe stieß einen langen, verzwirbelt klingenden Pfiff aus. Sofort waren da viele Einhörner zu sehen.
Das kleine Pferd verbrachte nun viel Zeit damit, mit den Einhörnern zu erzählen und zu spielen, und es stellte ihnen alle Fragen, die es ihnen schon immer hatte stellen wollen. Dann tanzten die Einhörner mit dem kleinen Pferd den himmlischen Glückstanz, und den tanzten sie bis zum Abend. Das Pferd war wirklich himmlisch glücklich. Als der Abend kam, sagten die Einhörner: „Du musst jetzt wieder nach Hause, kleines Pferd!“ „Warum denn? Hier ist es viel schöner!“ Das Pferd war enttäuscht. „Du hast eine Aufgabe in deinem Wald zuhause“, sagten die Einhörner. „Wir möchten, dass du allen Pferden in deinem Wald den himmlischen Glückstanz beibringst, damit sie immer und immer wieder so glücklich sein können, wie im Himmel.“ „Aber dann kann ich ja nicht hier sein“, protestierte das kleine Pferd. „Und hier ist es wirklich am schönsten!“
„Wir möchten dir etwas mit auf den Weg geben“, sagten die Einhörner, und eines von ihnen überreichte ihm einen wunderschönen Edelstein. „Das hier ist ein Zauberstein. Wann immer du ihn bei dir trägst und sogar, wenn du nur an ihn denkst, bringt er dir das Glück des Himmels. Du wirst himmlisch glücklich, wenn du an ihn denkst. Was meinst du: Können wir dich so wieder auf die Erde gehen lassen?“ Das kleine Pferd nickte.
Es ging zurück zum Affen, der beim Flugzeug auf es wartete, und stieg ein. Der Affe bewegte den ersten Hebel, und der Motor begann zu brummen. Er zog den zweiten Hebel, und das Flugzeug rollte los. Er zog den dritten Hebel, und das Flugzeug erhob sich in die Luft. Die Einhörner unten, die vorher um das kleine Pferd herumgestanden waren, standen noch immer in einem Kreis. Sie alle hatten sich nun auf ihre Hinterhufe gestellt, und verabschiedeten sich auf diese Art von dem kleinen Pferd. Es sah wunderbar aus. Wieder flogen der Affe und das Pferd durch den Regenbogen, und danach tauchten sie durch den Wolkennebel nach unten hinab. Unter den Wolken konnten sie schon das Land sehen, und die Dinge tief dort unten wurden allmählich immer größer.
Bald erkannten sie die Kamark, also das Land, wo sie herkamen, und den Wald, wo das kleine Pferd wohnte, und bald auch die Lichtung, von der aus sie gestartet waren. Genau dort landete der Affe mit dem Pferd auch wieder. Die anderen Pferde begrüßten sie stürmisch, und auch die Eule flog herbei, um das kleine Pferd und den Affen zu begrüßen. „Hast du wirklich die Einhörner gesehen?“, fragten die Pferde. Sie wollten alles über den Himmel der Einhörner wissen. Und bald brachte das kleine Pferd den großen Pferden den himmlischen Glückstanz bei, und alle wurden so glücklich, als wären sie im Himmel, obwohl sie doch auf der Erde waren. Sie tanzten diesen Tanz noch viele, viele Male.
Das kleine Pferd aber bewahrte den Zauberstein aus dem Himmel gut auf, und wann immer es wollte, dachte es an den Stein, und der Stein breitete in ihm eine wunderbare Freude aus, eine himmlische Freude, wie die Freude der Einhörner, wenn sie im Himmel tanzen.
Mir ist zu diesem Thema ebenfalls eine Geschichte eingefallen:
Bei uns zu Hause lebt eine kleine Waldelfe. Ihr Name ist Liliputu.
Eigentlich lebt sie natürlich nicht bei uns sondern, wie es sich für eine richtige Waldelfe gehört, in ihren wunderschönen Baumschloss in der Mitte des Waldes. Aber seit wir in unser Haus gezogen sind, kommt sie oft in der Nacht zu uns und schläft im Nachtlichthäuschen unserer Tochter. Am Tag fliegt sie meistens durch den Wald und schaut nach seinen Geschöpfen.
Abends erzählt sie unserer Tochter dann oft, was sie erlebt hat.
Gestern erzählte sie:
Letztes Jahr im Herbst fegte ein wilder Sturm über meinen Wald hinweg. Er rüttelte an den Bäumen, wirbelte Blätter durcheinander und erschreckte die Tiere des Waldes sehr. Rehe, Wildschweine, Mäuschen und Eichhörnchen verssammelten sich auf einer Lichtung und pressten sich aneinander, die Füchse verkrochen sich in ihre Höhlen, die Vögel flogen erschreckt aus ihren Nestern auf und Insekten und Spinnen suchten sich Erdspalten und Ritzen in den Baumrinden, um sich darin zu verkriechen. So auch eine kleine Ameise, die weitab von ihrem Ameisenhügel unterwegs war, um einen toten Regenwurm in Stücke zu schneiden und diese als Vorrat zum Ameisenhügel zu bringen. Lange musste sie sich in ihrer Erdspalte verstecken, denn der Sturm wütete viele Stunden lang.
Als er sich endlich legte, streckte sie vorsichtig einen Fühler aus ihrer Erdspalte, dann den zweiten und schließlich schob sie ängstlich den Kopf heraus. Alles war ruhig. Erleichtert kletterte die Ameise hervor und rannte den langen Weg zurück zu ihrem Ameisenhügel. Das Stück ihres Regenwurms vergaß sie dabei voll und ganz. So erleichtert war sie, dass ihr nichts geschehen war.
Dann kam sie an die Stelle, wo der Ameisenhügel stand. Der Anblick, welcher sich ihr dort bot war grauenhaft. Ein Baum war durch den Sturm entwurzelt worden. Er lag quer über der Stelle, wo einst der Ameisenhügel stand.
Die kleine Ameise stand zunächst vor Schreck erstarrt. Doch dann kam Leben in sie.
Sie rannte zu den Ruinen des Hügels und begann zu graben. Lange grub sie und fand viele tote Ameisen, aber schließlich stieß sie auch auf Überlebende, die ihr, so weit sie es vermochten beim Graben halfen.
Scließlich stießen sie auf das ehemalige Gemach der Ameisenkönigin. Die Ameisen erschraken sehr, denn die Königin war tot.
Nun schimpften die anderen Ameisen wütend auf die kleine Ameise. Sie sagten: „Warum musstest du uns unbedingt retten? Nun sind wir doch des Todes!“
Die kleine Ameise konnte vor Trauer nicht sprechen und schließlch schwiegen auch die anderen Ameisen. Die Nacht brach herein, sie verging und brachte einen neuen Tag.
In der Nacht hatte die kleine Ameise lange überlegt, was zu tun sei und sie war zu einem Entschluss gekommen.
Sie kletterte auf einen hohen Stein, so dass alle anderen sie gut sehen konnten und sprach:
„Es ist schlimm, dass unsere Königin und auch viele unseres Volkes gestorben sind, doch wir leben noch und wir können weiterleben. Während bisher unsere Königin uns Aufträge gab, müssen wir uns nun selbst überlegen, was zu tun ist. Wir brauchen einen neuen Bau und Vorräte für den Winter, kommt lasst uns die Aufgaben verteilen!“
Die anderen Ameisen reagierten nicht auf ihre Worte und so brach die kleine Ameise schließlich alleine auf. Sie lief zu der Erdspalte, wo sie das Regenwurmstück zurückgelassen hatte und machte sich daran, es zu der Ruine des Ameisenhügels zu bringen. Und da es ein großes, schweres Stück Wurm war, benötigte sie für diese Arbeit fast den ganzen Tag. Erst als es schon wieder dunkler wurde, kam sie zu ihren Kameraden. Sie schnitt mit ihren Beißzangen den Regenwurm in Teile und legte jeder Ameise ein Stück vor, dann aß sie ihr eigenes Stück auf und schlief erschöpft ein.
Am nächsten Morgen versuchte sie noch einmal, die anderen dazu zu bewegen, ebenfalls zu arbeiten, doch die anderen Ameisen wolten nicht, sie hatten auch ihre Stücke des Regenwurms nicht angerhrt, denn ihnen war jede Hoffnung verloren gegangen.
An diesem Morgen kam Liliputu zu dem Ameisenhügel. Sie war schon weit durch den Wald geflogen und hatte überall die Schäden des Sturms entdeckt. Als sie nun den zerstörten Ameisenhügel sah und von der kleinen Ameise erfuhr, was geschehen war, wurde sie sehr traurig, denn die Ameisenkönigin war ihr stets eine gute Freundin gewesen und sie war auch traurig, weil die Ameisen ihren ganzen Mut verloren hatten. Aber den Eifer und den Lebenswillen der kleinen Ameise lobte sie sehr.
Viele Tage lang ging die kleine Ameise nun Tag ein Tag aus zu der Stelle, wo der Rest des Regenwurms lag und kam stets am Abend mit einem Stück von ihm zu ihren Kameraden zurück und verteilte das Essen an sie, auch wenn diese nie etwas davon antasteten. Bald starben die ersten ihrer Kameraden vor Hunger und schon nach kurzer Zeit war die kleine Ameise ganz alleine. Oft besuchte Liliputu sie und so konnte die Waldelfe beobachten, wie die kleine Ameise sich selbst einen winzigkleinen Ameisenhügel baute und ihn mit Vorräten füllte.
Dann kam der Winter und die kleine Ameise zog sich in ihren Hügel zurück.
Erst als die Frühlingssonne den Schnee und die Kälte vertrieb, streckte die kleine Ameise ihre Fühler wieder aus dem Hügel hervor. Erst den rechten, ganz vorsichtig, dann den linken und dann stürzte sie fröhlich in die liebe warme Frühlingssonne heraus. Sofort machte sie sich auf, im Wald nach etwas Essbarem zu suchen, denn ihre Vorräte waren fast aufgebraucht. Sie fand einen dicken fetten Mistkäfer, den sie mit ihren Beißzangen zu zerlegen begann und Stück für Stück zu ihrem Ameisenhügel brachte. So war sie wieder den ganzen Tag beschäftigt. Am Abend kam Liliputu zu ihr zu Besuch und sie erzählten sich gegenseitig, wie sie den Winter verbracht hatten.
Viele Tage vergingen und eines Tages fand die kleine Ameise einen toten Regenwurm, genau an jener Stelle wo sie damals am Tag des Sturmes ebenfalls den Wurm gefunden hatte.
Da wurde sie traurig.
Am Abend sagte sie zu Liliputu:
„Weßt du liebe Waldelfe, ich habe alle meine Kameraden verloren und ich fühle mich so einsam, denn du bist mir zwar eine liebe Freundin geworden, doch kannst du mir meine Kameraden und meine Königin nicht ersetzen. Ich frage mich, ob jene die nach dem Sturm den Tod für sich wählten, nicht doch klüger handelten als ich!“
Und sie seufzte tief und war nicht mehr zu erheitern.
Die Waldelfe wollte der kleinen Ameise helfen und so machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zu einem anderen Ameisenhügel. Dort regierte die Ameisenkönigin KRRRkR. Lilputu erzählte ihr von der kleinen Ameise und bat KRRRkR, diese in ihr Volk aufzunehmen. Doch KRRRkR war immer sehr mißtrauisch und witterte überall Verrat. So lehnte sie Lliputus Bitte mit der Aussage, die kleine Ameise wolle sicher nur ihr Volk überfallen, ab.
Liliputu jedoch ließ den Mut nicht sinken und flog schnell zu einem anderen Ameisenvolk. Die Elfe trug deren Königin RUUgR ihr Anliegen vor und die Königin, versprach ihr eine Aufklärungsameisezu der kleinen Ameise zu schicken, um zu sehen, ob diese in das Volk RUUgRs passe.
Schon am nächsten Tag machte sich eine andere kleine Ameise auf den Weg und beobachtet die kleine Ameise den ganzen Tag. Abends berichtete sie ihrer Königin vom Fleiß und der Kraft der kleinen Ameise und schon einen Tag später stand die kleine Aufklärungsameise vor dem Ameisenhügel der kleinen Ameise und bat sie im Namen der Königin RUUgR mit ihr zu kommen, damit sie in das Volk der Königin aufgenommen werden könne.
Glücklich beobachtet Liliputu wie die kleine Ameise strahlend vor Freude zu ihrem neuen Volk wanderte.
Mich erinnert diese Geschichte an einen kleinen Jungen, dem es beim Autofahren immer schlecht wurde. Aus diesem oder einem anderen Grund fuhr der kleine Junge immer mit den Fingern an dem Türöffnungsgriff entlang während der Autofahrt. In dem Gedanken diese zu öffnen, auch um dem Leid zu entrinnen, verantwortlich zu sein, für die bevorstehende Trennung der Eltern. Eines Abends bei einer Autofahrt, sah er während eines Gewitters eine goldene Leiter den Himmel hinunterkommen. Der Himmel öffnete sich und ein Engel kam die Stufen herab. Dies befreite ihn von dem Wunsch in den Himmel zu kommen. Er wusste, ab sofort kann er den Himmel öffnen, ohne den Türgriff.
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