Vor einigen Tagen traf ich in einem Café einen jungen Mann wieder, der zu mir sagte: „Ich bin jetzt vier Wochen ohne Drogen. Ich weiß nicht, was Sie neulich mit mir gemacht haben, aber das hat mir viel gebracht. Ich weiß nicht, was Sie sind. Sie sind ein spezieller Pfarrer…“ „Das weiß ich auch nicht. Aber vergessen Sie nicht Ihr Geheimzeichen!“ sagte ich mit einem Augenzwinkern. Ich stützte den Kopf nachdenklich auf meine locker geschlossene Hand. Er lachte. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen… einen Saft, ein Wasser?“
Ein paar Wochen vorher hatte ich ihn auf einem Psychiatrieflur getroffen. Ich war ihm im Jahr davor schon einmal begegnet. Da hatte er mitten in einer drogeninduzierten Psychose gesteckt und ganz seltsame Dinge von sich gegeben. Das damalige Gespräch findet sich hier im Blog unter dem Titel „Herzstillstand“. Jetzt erzählte er mir: „Ich bin von selbst hier her gekommen, weil ich kurz davor war, wieder Drogen zu nehmen. Ich möchte keine Drogen mehr nehmen. Meinen Sie, dass ich das schaffe?“ „Ich denke schon, dass Sie das schaffen können, sagte ich. „Wann haben Sie denn angefangen, Drogen zu nehmen?“ „Als ich 21 war. Das war, nachdem meine Schwester gestorben ist. Sie war erst 17. Sie hatte Bulimie. Sie hat sich die Speiseröhre so verätzt, dass sie daran gestorben ist. Können Sie mir sagen, warum Gott so etwas zulässt? Das ist nicht gerecht. Sie war doch erst 17. Ich verstehe das nicht, sie war viel zu jung! Sie war gut. Viellleicht bestraft mich Gott jetzt, weil ich ihr nicht helfen konnte. Und dann ist meine Oma gestorben, die mich großgezogen hat. Und davor meine Mutter. Sie hat mich zwar weggegeben, aber dafür konnte sie nichts. Sie hatte Alkoholprobleme. Aber sie war meine Mutter, und sie wird immer meine Mutter sein. Und jetzt ist vor zwei Wochen auch noch meine Tante gestorben!“ Der Mann brach in Tränen aus. „Das war zuviel für Sie…“ „Ja, das ist zu viel! Ich habe Angst, dass ich jetzt wieder anfange mit den Drogen. Aber ich will das nicht.“ „Haben Sie eine Idee, warum Sie Drogen genommen haben? Ist das zum Beispiel, um sich zu trösten oder um sich zu bemuttern und zu befürsorgen, oder um den Schmerz nicht mehr zu spüren?“ „Ja.“ „Was denn davon?“ „Das alles.“ „Darf ich Ihnen etwas sagen? Ich verstehe Sie so, dass Sie Drogen genommen haben, damit es nicht so weh tut, dass diese Menschen, die Sie geliebt haben, weg sind. Vielleicht tut es Ihnen ja gut, wenn Sie zu Ihrer Schwester und Ihrer Mutter und Ihrer Oma und Ihrer Tante sagen: ‚Für mich seid ihr gar nicht weg, weil – im Himmel seid ihr da, und ich bin noch eine Zeitlang hier, und dann komme ich auch. Und außerdem, in meinem Herzen seid ihr sowieso da. Ich trage euch in meinem Herzen, da seid ihr überhaupt nicht weg, sondern immer bei mir.‘ Wir müssen ja nicht sagen: ‚Tot, aus, alles vorbei!‘ Wir können auch sagen: ‚Ihr bleibt immer bei mir‘, und vielleicht tut das ja besser.‘ Wie ist das für Sie?“ „Das ist viel besser“, sagte der Mann, und seine Augen leuchteten ein bisschen. „Und Ihre Schwester können Sie in Gedanken mit sich herumspazieren lassen und ihr sagen: ‚Ich zeige dir die Welt. Benutze einfach meine Augen, und schaue dir durch sie alles an.‘ Und so könnte sie durch Sie sozusagen weiter leben. Ich weiß nicht, ob das eine Vorstellungsübung ist, die gut tut oder eine spirituelle Sache, aber ich glaube, es macht einen Unterschied.“ „Ja, das ist gut.“ „Wenn Sie auf diese Weise Ihre Schwester, Ihre Tante, Ihre Oma und Ihre Mutter immer da haben können, dann brauchen Sie die Drogen ja vielleicht nicht mehr, um sich zu betäuben… und auch nicht, um sich zu bemuttern?“ „Ich habe ja auch immer Daumen gelutscht, noch bis ich erwachsen war.“ „Wann haben Sie denn mit dem Daumen lutschen aufgehört?“ „Als ich 21 war.“ „Dann haben die Drogen also das Daumenlutschen ersetzt. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?“ „Welchen denn?“ „Fangen Sie mit dem Daumenlutschen wieder an. Das ist besser als Drogen und erfüllt ja offensichtlich den gleichen Zweck. Sie brauchen es ja nicht so zu machen, dass es jeder sieht. Sie können es machen, wenn Sie allein sind, und wenn Ihnen in der Öffentlichkeit einmal danach ist, dann machen Sie eine lockere Faust und legen sie mit dem Daumen obenauf neben den Mund… etwa so, genau… das ist völlig unauffällig, das können Sie überall machen… Merken Sie sich diese Handhaltung, und sagen Sie Ihrem Körper: ‚Das bedeutet dasselbe wie Daumen lutschen, und es könnte auch bedeuten: Mama ist da, alle sind da, und es ist gut für mich gesorgt.‘ “ „Vielen Dank für das Gespräch“, sagte der Mann. „Das hat mir viel gebracht, wirklich…“ Er bedankte sich viele Male. Er sah wirklich sehr glücklich aus.