Auch diese kleine Episode stammt von der Geschichtenerzählerin Bettina Betz… 🙂
Sie war Studentin, zwanzig Jahre alt und hatte einen Freund. Er studierte an derselben Universität, war genauso groß und genauso alt wie sie. Und sie hatten noch etwas gemeinsam: Beide hatten sie ein Problem mit dem Zeitmanagement. Sie kam meistens mit hängender Zunge gerade noch rechtzeitig, er kam fast immer zu spät.
Einmal hatten sie sich an einem Bahnhof in der Nähe seines Wohnortes verabredet. Er wollte sie am Bahnsteig abholen. Ihr Zug sollte auf Gleis eins ankommen. Auf den letzten fünfhundert Metern bis dorthin gab es parallel zu den Schienen einen Fußweg, der den Bahnhof mit dem Parkplatz verband.
Als nun ihr Zug langsam auf den Bahnhof zurollte, schaute sie aus dem Fenster. Da entdeckte sie auf dem Weg ihren Freund. Er rannte. Er rannte so schnell er konnte. Er war also wieder einmal viel zu spät von zu Hause losgefahren. Der Zug war schneller als er, er würde es nicht schaffen, rechtzeitig am Bahnsteig zu sein. Aber er gab nicht auf.
Später kann sie sich noch genau an die Gefühle erinnern, die sie in diesem Moment hatte: Sie genoss den Anblick dieses Mannes, der da rannte, ihretwegen. Sie sah sein konzentriertes Gesicht, seine gleichmäßige Bewegung. Und sie freute sich. Sie freute sich auf etwas, das sie damals schon lange einmal hatte tun wollen: Sie würde Gelegenheit haben, ihm entgegenzulaufen.
Das tat sie dann. Nachdem sie ausgestiegen war und den Bahnhof in Richtung Parkplatz verlassen hatte, sah sie ihn von Weitem kommen. Sie ließ ihren Rucksack ins Gebüsch fallen und setzte sich in Bewegung. Sie fühlte sich leicht, glaubte fast, zu fliegen. Kurz bevor sie mit ihrem Freund zusammengeprallt wäre, drosselte sie etwas ihr Tempo, musste lachen, als sie sein überraschtes Gesicht sah, und warf sich ihm in die Arme.
Jemand hat einmal gesagt: „Wir schätzen unsere Freunde für ihre Stärken, aber wir lieben sie für ihre Schwächen.“