Auch diese Geschichte stammt von meiner Kollegin Bettina Betz. Die Geschichte kann beispielsweise in Situationen verwendet werden, in denen Frauen nicht respektvoll (und gleichberechtigt mit Männern) behandelt werden, um Distanz zu Personen zu schaffen, die sich in verletzender Weise verhalten haben und gleichzeitig Leichtigkeit ins Gespräch zu bringen (also den verletzten Menschen von der Verletzung und ihrem Urheber zu trennen) oder auch, um mit einem verfremdeten Blick auf die Beratungssituation eine Suche nach Selbstwert und Würdegefühl zu stimulieren…
Ende der 60er Jahre ließ sich ein junger Arzt in seiner Heimatstadt nieder. Es war eine ländliche Gegend, man kannte sich und berief sich auf traditionelle Werte.
Die Praxis hatte bald großen Zulauf. Die Leute schätzten die Heilkunst des jungen Mediziners, den sie, samt seiner alteingesessenen Familie, schon lange kannten und mochten.
Sie machten sich aber auch Sorgen um ihn, denn in ihren Augen hatte er ein Problem: Seine durchaus liebenswerte Frau hatte noch keinen einzigen Sohn zur Welt gebracht. Mit der Geburt jeder Tochter wuchs das Mitleid der Leute mit ihrem Doktor. Das hatte er nicht verdient und seine Frau natürlich auch nicht.
Als das vierte gesunde Mädchen angekommen war, ging die Frau des Arztes einmal mit dem hübschen Kind im Wagen spazieren. Eine Patientin ihres Mannes kam ihr zufällig auf dem Weg entgegen. Die junge Mutter wollte sie freudig begrüßen, doch die Patientin kam ihr zuvor. Voller Mitgefühl schaute sie in den Kinderwagen: „Ach Gott, Frau Heller, nehmen Sie es nicht so tragisch“, meinte sie zur Frau des Arztes. „Es ist ja auch ein Mensch.“