Dieser Beitrag hat mich berührt. Er stammt von meiner geschätzten Kollegin Angelika Berning aus Hannover. Ich habe sie gefragt, ob ich ihn veröffentlichen darf und bin dankbar, dass sie „Ja“ gesagt hat…
Vor einiger Zeit habe ich einen Ort aufgesucht, der mich sehr beeindruckt hat. Was ich an diesem Ort erlebt habe möchte ich im Folgenden gerne teilen.
Nehmen Sie sich einige Minuten Zeit dieses Bild anzuschauen, bevor Sie den nachfolgenden Text lesen.
Unvorstellbar
Äußerlich bin ich ganz ruhig, aber tief in mir spüre ich Anspannung, als ich an diesem grauen Herbsttag den kleinen Kellerraum betrete. Schon lange hatte ich vorgehabt hierher zu kommen und registriere nun, dass ich mir den Raum viel größer vorgestellt hatte. Er misst etwa drei Schritte von Wand zu Wand und sechs vom Fenster bis zu der Stelle, wo nach späterer Rekonstruktion die vordere Wand gewesen sein muss; vielleicht sind es 18 qm. Eine weiße Kerze steht auf einer Art rostigem Eisenbalken, der als Kerzenständer dient. Ein kleines Holzkreuz liegt auf der Kerze. Auf dem Boden direkt daneben steht ein erloschenes, rotes Grablicht und eine wie achtlos daneben hingeworfene Plastikrose.
Ansonsten ist der Raum leer. Gar nichts Besonderes hier: unspektakulär, schlicht, karg und einfach, wie viele Kellerräume in irgendwelchen Häusern. Steine, Mörtel, Wände, die Decke nicht sehr hoch, ein vergittertes Fenster mit Milchglasscheiben, die Tageslicht hereinlassen. Ohne Wissen könnte man von diesem Raum in seiner ausstrahlenden Harmlosigkeit keinerlei Rückschlüsse auf das ziehen, was hier früher einmal stattgefunden hat. Und doch war er eine Zeit lang eine Stätte unvorstellbaren Grauens. Sobald man ihn damals betreten hatte, musste buchstäblich die Hölle begonnen haben.
Genau an diesem Ort auf Schloss Sonnenstein in Pirna/Sachsen sind von 1940 bis 1941 fast 14.000 Menschen vergast worden. Dabei war die Heilanstalt Sonnenstein in den ersten einhundert Jahren ihres Bestehens eine im In- und Ausland hoch angesehene, psychiatrische Anstalt gewesen, wo beachtliche Heilerfolge erzielt worden waren. Bis dahin hatte in diesen Kliniken die Verwahrung der Patienten an erster Stelle gestanden. Nun wollte man mit einem neuen Konzept angemessene und vor allem humane Behandlungsmöglichkeiten zum Wohle der Patienten anwenden. Man ermöglichte ihnen Beschäftigung, eine offene Fürsorge und verzichtete auf einschränkende Maßnahmen im Sinne von Zwang, Isolierung und Bestrafung.
Kaum dreißig Jahre später war aus der Reformpsychiatrie eine Tötungsanstalt geworden. In der Gaskammer hier unten im Keller wurde sogenanntes „unwertes Leben“ wie selbstverständlich vernichtet. Im Rahmen einer reichsweit von den Nazis zentral koordinierten und weitgehend geheim gehaltenen Aktion, genannt „T4“, wurde die Tötung sogenannter „Ballastexistenzen“ an insgesamt sechs Orten in Deutschland umgesetzt.
Genau hier, wo ich jetzt stehe, ist einer davon und nicht zuletzt wegen der Zahl der Opfer einer der schlimmsten Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Sachsen. Vernichtet wurden in diesen sechs „Euthanasie“- Anstalten insgesamt 70273 Menschen.
Still ist es hier unten, trotz des Baulärms von draußen. Vielleicht ist der Krach sogar gut und hält die Verbindung zum Heute, während meine Gedanken in die Vergangenheit ziehen. Wie viel Angst muss an dieser Stelle ertragen worden sein? Wie viele gellende Schreie sind hier wohl ausgestoßen worden? Wie viele Menschen mögen vor Entsetzen in einem mehrere Minuten dauernden Todeskampf durch Ersticken röchelnd die Finger ineinander verkrallt haben? Was noch mehr? Verzweifelte Männer, Frauen, Kinder, denen man vielleicht versprochen hatte, in eine modernere Heilanstalt zu kommen, wo sie bessere Bedingungen vorfinden würden und man ihnen kompetenter helfen könnte. In diesen Raum traten sie ein, weil sie davon ausgingen, dass sie nach ihrer Ankunft zunächst erst duschen sollten. Manche hatten laut Angaben tatsächlich Waschlappen und Seife dabei.
Ich bin sehr wach und wie betäubt zugleich. Habe Angst, ein riesiger Schmerz könnte wie ein Dolch in meine Brust fahren, wenn ich die Gefühle wirklich zulassen würde, die diese Vorstellungen in mir hervorrufen. Ich fange an zu rechnen, vielleicht zum Selbstschutz. Es ermöglicht mir Distanz, um nicht vom Grauen übermannt zu werden.
In den Brennöfen zwei Räume weiter konnten maximal zwei Leichen zugleich verbrannt werden, also in beiden Öfen zusammen vier Leichen. Wie lange braucht eine Leiche, um vollständig zu Asche zu werden? Siebzig Minuten, habe ich später im Internet nachgelesen. 13.720 getötete Menschen werden in der Gedenkstätte genannt. Wie lange mögen die zwei Öfen gebrannt und sich der Geruch über Pirna verbreitet haben?
Ich lese auf einer Gedenktafel, dass viele Einwohner bereits damals von den Krankenmorden auf Schloss Sonnenstein wussten. Es war also bekannt, dass in den grauen Bussen, im Volksmund „Flüsterkutschen“ genannt, Menschentransporte stattfanden, die wieder und wieder hoch auf Schloss Sonnenstein fuhren. Der schwarze Rauch und der Geruch von verbrannten Menschen muss registriert worden sein. Als letzter Satz auf der Gedenktafel steht: „Proteste gab es jedoch nicht. Die Tötungsmaschinerie konnte ungestört arbeiten.“
„Unwertes Leben“
Als ich den Gedenkstättenraum mit den Dokumentationen im Obergeschoss betrete, sind nur noch drei weitere Personen anwesend. Sie haben scheinbar nichts miteinander zu tun. Eine ältere Frau und ein Mann stehen vor unterschiedlichen Tafeln. Es ist ganz still. Nur ein jüngerer Mann in einem Parka sitzt in sich zusammengesunken, ab und zu leise vor sich hin murmelnd, auf der Besucherbank. Er zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, immer wieder muss ich hinschauen. Als ich an ihm vorbeigehe, hebt er den Kopf und unsere Augen begegnen sich. Jetzt kann ich erkennen, dass es ein Mann mit Down-Syndrom ist, vielleicht 35 Jahre alt. Der ältere Mann setzt sich nach einer Zeit zu ihm. Sie flüstern und verlassen gemeinsam den Raum. Nur die Frau und ich sind jetzt noch hier oben. Als auch unsere Augen sich einmal begegnen, versuche ich sie anzulächeln. Kein Lächeln kommt zurück. Stattdessen spüre ich hinter ihrem ernsten, fast völlig erstarrten Gesichtsausdruck und den weit aufgerissenen Augen einen großen, zurückgehaltenen Schmerz. Ich schäme mich für mein Lächeln, das so gar nicht zu der Situation zu passen scheint. Vielleicht hatte ich zwischen den Dokumenten der Unmenschlichkeit einfach nach einem Moment der Verbindung gesucht, um es aushalten zu können, was man hier im Detail an Entsetzlichem erfährt.
Plötzlich sind die beiden Männer wieder da und bleiben schweigend am Eingang stehen, mit Blick zu uns in den Raum. Die Frau geht auf die beiden zu. In einer vehementen Geste breitet der junge Mann mit plötzlich strahlendem Lächeln seine Arme weit aus und umarmt die Frau, die vielleicht seine Mutter ist, und sogleich schließt auch sie ihn in die Arme. Innig und ohne Worte. Sie gehören offenbar doch alle drei zusammen, sind eine Familie.
Was mögen diese Frau, dieser ältere und auch der junge Mann heute hier innerlich erleben? Welche Schmerzen mögen sie spüren als Mutter, als Vater von „unwertem Leben“, wie es damals benannt wurde? Was mag der junge behinderte Mann hier oben fühlen?
Bis 1945 sind die Tötungen weiter vollzogen worden, hier auf Schloss Sonnenstein nach 1941 nicht mehr durch Vergasung, sondern danach mit hohen Medikamentendosen, die zum Ersticken führten, oder schlicht durch Verhungern.
Gleich am Eingang ist schon zu lesen: „Im Keller dieses Gebäudes ermordeten die Nationalsozialisten in den Jahren 1940/41 13720 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen sowie mindestens 1031 Häftlinge aus Konzentrationslagern.“
Anwesend zu sein, während dieser junge Mann seine erstarrte Mutter umarmt, ihr sein Lächeln schenkt, so wie er es wahrscheinlich schon oft in seinem Leben getan hat, berührt mich bis tief in mein Innerstes. Unfassbar hier der Begriff des „unwerten Lebens“.
Die Tränen liefen und indem ich diese Begegnung gerade aufschreibe auch jetzt wieder. Bei aller Anstrengung, welche die Behinderung des Sohnes für die Familie bedeutet haben mag, zurückliegend und wohl auch zukünftig, ist seine Existenz doch ein Geschenk. Deutlich ist das zu spüren in der Verbindung, die ich zu sehen bekomme.
Aufschrei
Für jeden Menschen, der, statt in bessere Behandlung zu kommen, hier qualvoll in der Gaskammer ersticken musste, befindet sich heute ein gemaltes Kreuz in leuchtender Farbe auf dem Boden. Die bunte Spur der gemalten Kreuze nimmt ihren Anfang in diesem Keller des Grauens und zieht sich auf dem Pflaster quer durch Pirna. Weiß man das nicht, so wie ich damals, als ich meine Freunde hier zum ersten Mal besuchte, ist man neugierig, wofür die dekorative Spur gemalt sein mag. Ich fühlte mich geradezu angezogen von ihr und fragte nach ihrer Bedeutung. Die Antwort ließ meinen Atem stocken. Das bis dahin für mich nur theoretische Wissen von der Ermordung so vieler Menschen in dieser Stadt kam plötzlich sichtbar nah. 13.720 getötete Menschen ist eine abstrakte Zahl, aber die nicht enden wollende, bunte Spur, die sich durch die vielen Straßen zieht, verfehlt ihre Wirkung nicht und schockiert mich immer wieder. Und sie erinnert mich daran, dass so etwas nie wieder passieren darf.
Die Spur der bunten Kreuze zieht auch durch die Kirchgasse. Wenige Tage zuvor hatte mich ein Schild dort vor einem Laden wie ungläubig stehenbleiben lassen. Es war die große Überschrift darauf: Noteingang, mit dem bekannten Logo für Notausgänge. Darunter der Text: Wir bieten Schutz vor rassistischen Übergriffen! Darunter in drei Sprachen wiederholt (s. Foto unten).
Erst langsam, indem ich die Worte mehrmals gelesen hatte, war mir die Bedeutung klargeworden: Wenn eine derartige Möglichkeit angeboten wird, ist sie eine Notwendigkeit. Mir wurde klar, dass Menschen ausgerechnet hier in Pirna bedroht oder/und verfolgt worden sind und möglicherweise dringend Hilfe gebraucht haben. Vielleicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie fremdartig aussahen. Genau an einem der Orte, von denen damals die Vernichtung „unwerten Lebens“ begonnen hatte.
In der Gaskammer fällt es mir wieder ein, wie geschockt ich geradezu über dieses Schild gewesen war und wie sich beim Lesen der Worte alles in mir zusammengezogen hatte. Wie viele Jahre braucht es wohl von dem Zeitpunkt an, da solch ein Schild erforderlich wird, bis vielleicht Ähnliches passiert wie das, was ich eben gerade auf Schloss Sonnenstein besichtige und erfahre? Alles, was größer geworden ist, hat irgendwann einmal klein angefangen.
In der Gedenkstätte erfahre ich auch für mich neu, dass schon 1904 die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“ gegründet worden war, und dass sich durch den ersten Weltkrieg die rassenhygienischen Forderungen dieser Vertreter verschärft hatten. Sie waren allerdings mit diesem zugrundeliegenden Gedankengut längst nicht mehr allein. Es hatten sich angesichts der durch den Krieg verursachten, großen wirtschaftlichen Not die Stimmen gemehrt, die sich auch aus finanziellen Gründen gegen die Pflege und Betreuung chronisch psychisch Kranker und Behinderter ausgesprochen und sogar deren Tötung als „überflüssige Esser“ gefordert hatten. Zwei angesehene Wissenschaftler, ein Psychiater und ein Jurist, stellten gemeinsam schon 1920 einen offiziellen Antrag, „unwertes Leben”“ vernichten zu dürfen. Immerhin wurde damit zunächst wenigstens noch an offizieller Stelle um Erlaubnis angefragt.
In nur wenigen Jahren hatte sich diese menschenverachtende Denk- und daraus resultierende Handlungsweise zu einer perfekt organisierten Tötungsmaschinerie entwickelt, die Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Von der Beantragung bis zur tatsächlichen Umsetzung hat es nur knapp 20 Jahre gedauert.
Der katholische Priester Clemens August Graf von Galen war von 1933 bis 1946 Bischof von Münster in Westfalen. Er kritisierte öffentlich u.a. die menschenfeindliche Politik der Nazis. In seiner Predigt am 3. August 1941 prangerte er die Euthanasie, also die Vernichtung der als unwert eingruppierten Menschen als Mord an. Die Auszüge der Predigt, die ich in der Gedenkstätte gefunden habe, füge ich hier ein:
„Seit einigen Monaten hören wir Berichte, dass aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, dass diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, dass man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe so genannt lebensunwertes Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt!
Deutsche Männer und Frauen! Noch hat Gesetzeskraft der §211 des Reichsstrafgesetzbuches, der bestimmt: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“ Wohl um diejenigen, die jene armen Menschen, Angehörige unserer Familien, vorsätzlich töten, vor dieser gesetzlichen Bestrafung bewahren, werden die zur Tötung bestimmten Kranken aus der Heimat abtransportiert in eine entfernte Anstalt.
Als Todesursache wird dann irgendeine Krankheit angegeben. Da die Leiche sofort verbrannt wird, können die Angehörigen und auch die Kriminalpolizei hinterher nicht mehr feststellen, ob die Krankheit wirklich vorgelegen hat und welche Todesursache vorlag. Es ist mir aber versichert worden, dass man im Reichsministerium des Innern und auf der Dienststelle des Reichsärzteführers Dr. Conti gar keinen Hehl daraus mache, dass tatsächlich schon eine große Zahl von Geisteskranken in Deutschland vorsätzlich getötet worden ist und in Zukunft getötet werden soll (…). So müssen wir damit rechnen, dass die armen, wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? Nicht, weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben! Nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben…(..). Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission lebensunwert geworden sind (…). Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann weh unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invalide in die Heimat zurückkehren. Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, unproduktive Mitmenschen zu töten, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.“
Ausgedient
Alternde Menschen und ihre Betreuung sind aktuell zunehmend als Thema in den Medien zu finden. Von den Strapazen des Pflegepersonals in Heimen und auch in privaten Bezügen liest und hört man inzwischen viel, auch über die Kosten, die diese Menschen verursachen. Die demoskopischen Veränderungen unserer Gesellschaft stellen ein wachsendes Problem für die folgenden Generationen dar. Es gab sogar bereits im Fernsehen in der Sendereihe „Polizeiruf 110“ im Mai 2107 im Fernsehen einen Film, der laut Ankündigung „niemanden kaltlassen“ würde. Es ging um einen Mord, dessen Hintergrund die Verzweiflungstat einer Altenpflegerin war. In der mit Personal hoffnungslos unterbesetzen Einrichtung und oft allein in der Nachtschicht hatte sie sich nicht gegen die wiederholten sexuellen Übergriffe durch einen Heimbewohner wehren können und ihn schließlich getötet. In der Person des eintreffenden Kommissars, der sich in der spürbar kühlen und bedrückenden Atmosphäre des Heimes zunehmend schockiert zeigte, wurde der Zuschauer in die erschreckenden und ziemlich realistisch dargestellten Zustände derartiger Einrichtungen hineingezogen. Verstärkt wurden diese Eindrücke durch einen weiteren Heimbewohner, der verzweifelt versuchte den Kommissar auf die untragbaren Zustände in der Senioreneinrichtung aufmerksam zu machen. Später wurde dieser Mensch, ehemaliger Elitesoldat, Mörder aller Insassen der Abteilung. Sozusagen als Akt der Menschlichkeit erschoss er alle Mitbewohner. Dieser Film fällt mir wieder ein, als ich die Rede des Bischofs lese.
Ich erinnere mich auch an eine Unterhaltung mit einer guten Freundin. Sie hatte mir berichtet, dass ihr in letzter Zeit öfter aufgefallen wäre, wie unfreundlich und rau alte Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln ihrer Stadt behandelt werden würden. Alt zu sein ist in unserer Gesellschaft zu etwas Lästigem und Unschönem geworden. Ein Problem, wofür eine Lösung gesucht wird, natürlich im Einklang mit unserer bestehenden Gesetzgebung. Unvorstellbar, es könnte sich dennoch wiederholen, dass als unwert erklärtes Leben vernichtet wird, wie es in unserer Geschichte stattgefunden hat. Ich halte inne, während ich den letzten Satz schreibe. Das sogenannte Unvorstellbare? Alles kann unvorstellbar sein bis zu dem Moment, da es stattfindet. Immer mehr stelle ich fest, dass vieles, was auf dieser Welt passiert, eigentlich unvorstellbar für mich ist. Dennoch findet es statt. Vor allen Dingen das, was Menschen anderen Menschen antun. 31 bewaffnete Konflikte gab es 2017 weltweit, ist in den Medien zu lesen. War es vorstellbar damals bis zur Umsetzung, dass Behinderte, Kinder, Homosexuelle, Sinti, Roma und vor allem Juden systematisch verfolgt und vernichtet werden würden?
Für mich war es auch nicht vorstellbar, dass eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag einziehen würde, wie es 2017 geschehen ist, oder dass ein Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten werden kann. Wen will man noch alles nicht haben auf dieser Welt und sinnt sich Dinge aus, wie der Andere jeweils aus dem Weg geräumt werden könnte, statt im Gemeinsamen nach Lösungen zu suchen? Vor allen Dingen, wenn es immer knapper wird auf diesem Planeten und immer enger in den langfristig noch bewohnbaren Gegenden angesichts der wachsenden Weltbevölkerung und den benötigten, aber schwindenden Ressourcen! Das will ich mir gar nicht vorstellen und kann mich doch nicht gegen meine Phantasien wehren, was alles passieren könnte.
Ich muss noch ein weiteres Mal in diesen „Duschraum“, die Gaskammer kommen, hier unten in den Keller auf Schloss Sonnenstein. Noch einmal hineinfühlen, als müsse ich mich überzeugen, dass es ihn wirklich gibt, noch einmal lesen, was hier zu lesen steht. Ich entdecke immer wieder Entsetzliches, was ich wohl beim letzten Mal überlesen oder ausgeblendet hatte, weil es so unfassbar ist, dass ich es einfach nicht wahrhaben will und nun fühlen muss: Der jeweils zuständige Arzt, ein Mensch, der zum Heilen ausgebildet war, hat den Gashebel umgelegt, so dass das tödliche Gas einströmen konnte, und er beobachtete das Geschehen in diesem Raum durch ein kleines Fenster, bis nach erst etwa drei bis vier Minuten Todeskampf alle Opfer auf dem Boden lagen.
Der hauptverantwortliche Arzt und Klinikleiter wurde zum Tode verurteilt. Ein weiterer Arzt der die Aktion „T4“ als Abteilungsleiter im Sächsischen Innenministerium koordiniert hatte, starb 1993, ohne je gerichtlich zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Ein anderer Arzt wurde 1972 freigesprochen – Zitat: „Wegen fehlendem Bewusstseins der Rechtswidrigkeit“ – und konnte als niedergelassener Arzt wieder unbehelligt tätig sein.
Berthold Brechts im Gangstermilieu angesiedelte Parabel über den Aufstieg Hitlers – Arturo Ui – endet mit der berühmten Warnung: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Im Dezember 2017 hatte das Stück in Cottbus Premiere. Der Regisseur, der das Cottbuser Theater als Trutzburg der Demokratie ansieht, wollte mit dem Stück zur Diskussion anregen. Aber er sagte auch: „Wir werden von rechts überholt – in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.“
Angelika Berning