Auf einer Anhöhe an einem Küstenstreifen im Osten Afrikas saß ein Mann und schaute aufs Meer. Seit vielen Jahren saß er da, jeden Tag, und schaute in die Ferne. „Warum sitzt du immer hier?“ fragten ihn die Fischer, wenn sie an ihm vorübergingen. „Was hockst du da und guckst aufs Meer?“ fragten ihn die Dorfbewohner. „Warum machst du das?“ fragten auch seine Freunde. Seine Antwort war jedes Mal dieselbe. „Vor vielen Jahren kam eine große Welle aus dem Ozean, ein Tsunami, der alles mit sich gerissen hat. Meine Familie habe ich verloren. Ich selbst habe mit knapper Not überlebt. Jetzt sitze ich hier und warte, wann die nächste Welle kommt.“ „Aber so eine Welle kommt doch sehr selten. Alle tausend Jahre vielleicht, höchstens. Willst du hier dein Leben vertun, um nach einer Welle zu schauen, die vielleicht nie kommt?“ „Ich sitze ich hier und warte, wann die nächste Welle kommt“, wiederholte der Mann. Dabei blieb er. Viele Male hatten seine Freunde versucht, ihn dazu zu bewegen, sich bei ihnen oder in der Dorfgaststätte zuhause zu einem gastlichen Essen zu treffen. Vergebens! Er kam nicht mit.
Eines Abends kam ein Wanderarbeiter in das Dorf. „Warum sitzt der Mann immer da?“ fragte er. „Lädt ihn keiner ein? Mag er keine Gesellschaft?“ Sie erzählten ihm seine Geschichte. „Du brauchst es gar nicht zu versuchen. Er wird nicht mit dir essen. Mit uns isst er auch nicht.“ „Lasst uns einmal sehen…“
Als der Abend sich über die Küste senkte, sah man den Mann auf seiner Anhöhe sitzen, neben ihm den Wanderarbeiter und rings umher die Freunde des Mannes und die Leute aus dem Dorf. In ihrer Mitte lagen auf einem großen Tuch all die Speisen und Getränke, die sie mitgebracht hatten. Die Musiker aus dem Dorf trommelten und spielten traditionelle Weisen, während andere in festlichen Gewändern dazu tanzten. Und wer ganz genau hinschaute, dem konnte es für Augenblicke scheinen, als ob in den Augen des Mannes eine Träne stünde, in der sich die Abendsonne spiegelte, die über den Hügeln hinter dem Dorf unterging.
Die Geschichte erzähle ich Menschen, die sich nach einer plötzlich über sie hereingebrochenen Katastrophe so verhalten, als ob sie in harmlosen Lebenssituationen auf der Hut vor einer Gefahr sein müssten. Die Geschichte lädt Betroffene, Freunde und Helfer dazu ein, einen solchen Menschen zu seinen Bedingungen erleben zu lassen, dass er zu ihnen gehört und in dieser Zugehörigkeit Schutz und Geborgenheit erleben zu lassen
Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Zugehörigkeit erleben lassen„.