Es gibt Menschen, die können gut zuhören. Und es gibt andere, die können gut zusehen. Ich kannte einen Menschen, der konnte beides recht gut. Doch besser noch konnte er etwas anderes. Mehr noch war er ein guter Zufühler. Wenn er einem anderen begegnete, so nahm er in Gedanken oder auch in Wirklichkeit dessen Haltung ein. Er schaute wie er, er atmete wie er, er bewegte sich wie der andere und nahm auch dessen Stimme an. Er fühlte, wie sich ein Mensch fühlt, der sich so ausdrückt und bewegt, wie der, dem er gerade begegnete. Dann fragte er sich oft, wie wohl eine Brücke beschaffen sein müsste, die von diesem Erleben wegführte, hin zu einem anderen, kraftvollen, freien und erlösten Leben. Dieser Mann verstand viele Sprachen. Er verstand sie nicht nur, er sprach sie auch, zumindest, wenn er es wollte. Zuweilen sprach er die Sprache eines Gekränkten, der eine Träne in seiner Stimme bewahrt und seine Linke am Hals hält, der sich nach einem schmerzlichen Wort das Auge reibt und an den ärgerlichen Stellen hustet. Manchmal sprach er die Sprache eines Schwermütigen, der atmet, als ob ein tieferes Luftholen ihm Schmerzen bereite, und der erzählt von all den Dingen, die nicht sind, und der fast unmerklich, doch unentwegt, den Kopf verneinend schüttelt. Er sprach die Sprache eines Zornigen, dessen Kiefer so hart ist wie eine Faust und zwischen dessen Schulterblättern man mühelos Nüsse knacken könnte. Er redete die Sprache eines Kranken, dem alles Reden von Gesundheit wie eine Missachtung seiner Leiden erscheint, und die Sprache eines Schmerzgepeinigten, der längst keine Worte mehr sucht für Wonne und Lust, Genuss und Wohlbefinden. Er kannte die Sprachen des Leibes, der Stimme und des Atems und auch die der Organe, die ja ihre ganz eigenen Worte haben. Zuweilen erzählte der Zufühler den Menschen, die zu ihm kamen, auch eine Geschichte. Und solch eine Geschichte begann ganz gewiss in der Sprache desjenigen, mit dem er da redete. Indem der Zufühler erzählte, wurde in seinem Munde aus der Sprache des Gebeugten die des Aufrechten und aus der Sprache dessen, der sich nicht mehr zu wundern vermag, der Ausdruck eines Menschen, den die Neugier vorantreibt und aus der Sprache des Leidenden die Geste des Gelassenen und Gelösten, der seine Schmerzen von Minute zu Minute vergisst. Und das Seltsame war, dass sich mit diesen Geschichten auch die Menschen veränderten, die sie hörten. Manchmal geschah dies still und unter der Hand und manches Mal für die Zuhörer überraschend und dennoch lange angebahnt. Oft wurde solch eine Geschichte zu einer weit gespannten Brücke vom Leiden der Menschen bis hin zu dem Ziel ihrer Sehnsucht. Für die Menschen um ihn war es ein Wunder – er nannte es nur einen Wandel. Dieser Wandel gelang, weil er stets und immer den ersten Pfeiler am Hang ihres Leidens befestigte – und dabei den zweiten Brückenpfeiler nie vergaß.
(Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 81)