Eine Kollegin hat mir eine Anregung gegeben zu einer Geschichte für Menschen, die sich ritzen oder auf ähnliche Weisen selbst verletzen. Ich erzähle die Geschichte folgendermaßen.
Es gibt bei den Indianern die faszinierendsten Bräuche. Zum Beispiel: Bevor ein Mensch erwachsen wird, ist es nötig, bestimmte Rituale zu vollziehen. Die Ethnologen, die diese Völker erforschen, sprechen von Initiationsriten. Das sind nicht einfach bloß Mutproben, sondern es sind Bräuche, die die Tür öffnen in eine neue Stufe des Lebens. Im Leben der Menschen sind diese Bräuche wie eine Stufe, die sie überschreiten, um sich auf einer anderen, höheren Ebene wiederzufinden. Diese Riten sind eine eindrucksvolle Sache! Bei einem Stamm ist es so, dass die jungen Leute eine ganze Nacht lang tanzen. Dabei schlagen sich selbst mit langen, dornigen Ranken auf den Rücken. Sie ziehen fest an den Ranken, bis ihnen die ganze Haut in Fetzen von ihrem Rücken hängt und sie gemeinsam in ihrem Blut tanzen.
Nach diesem Tanz kommt ein zweiter Tanz, bei dem sie sich mit scharfen Messern Wunden in die Arme und Beine schneiden. Dann reiben sie sich gegenseitig ein: Erst mit dem Blut, das aus ihren Adern rinnt, danach mit Speichel, den sie einander auf die Wunden reiben, und zuletzt mit Salz.
Dann tanzen sie weiter, wilder noch als zuvor. Zuletzt sinken sie einander erschöpft in die Arme und schlafen, und schlafen, und schlafen. Im Traum sehen sie Bilder, die ihnen den Weg weisen in das Erwachsenenleben, das sich unterscheidet von dem Leben, das sie vorher geführt haben.
Sie gehen aus diesem Ritual gestärkt hervor. Noch mehrere Male werden sie besondere Initiationsriten zu bestehen haben, die sie in neue Lebensstufen führen. Aber das Ritual der Dornen und der Messer machen sie nur einmal. Eingeführt in die Welt der Erwachsenen, lassen sie von da an die vorige Zeit hinter sich. Sie gehören nun zu einem neuen Alter, das neuen Regeln folgt.
Sehr geehrter Herr Hammel,
gerade habe ich die Geschichte zum Thema „Ritzen“ gelesen.
Als Krankenschwester habe ich immer wieder mit solchen Patienten zu tun.
Ich finde es oft schwierig diese Patienten zu verstehen und ihre Handlungsweisen nach zu vollziehen. Manchmal habe ich den Eindruck das ihnen gar nicht richtig geholfen werden kann.
Sie setzen das „Ritzen“ in einen ganz anderen zusammenhang und das wiederum finde ich sehr spannend.
Wie sind sie nur darauf gekommen? Interessieren Sie sich für Schamanismus?
Auf alle Fälle werde ich mal diese Geschichte einem „ritzenden“ Patienten erzählen und schauen was passiert.
Hallo Patty,
Erzählen Sie mir gerne, was Sie für Erfahrungen beim Erzählen der Geschichte machen! Es interessiert mich…
Mit Schamanismus habe ich eigentlich nichts zu tun. Allerdings befasse ich mich öfter damit, wie Hypnose, Systemik und Therapie in Bezug steht zu dem Streben nach Heil und Heilung in den Religionen. Im Erstberuf bin ich evangelischer Pfarrer – das erklärt vielleicht meine Beziehung zu spirituellen Fragen.
Die Idee zu der Geschichte hat mir eine ärztliche Kollegin gegeben, Frau Alexandra Spitzbarth aus Würzburg.
Ich habe einige Gedanken zu der Geschichte im „Handbuch des therapeutischen Erzählens“ aufgeschrieben, das im März 2009 bei Klett erscheint. Ich füge sie mal hier an, vielleicht helfen die Überlegungen zur Erklärung, welche therapeutische Gedanken ich damit verbinde. Auf jeden Fall bin ich der Meinung, dass hinter jedem Symptom eine gute Absicht steckt, die gewürdigt werden will.
„Der Tanz der Dornen und der Messer“ ist eine Intervention zur Überwindung des Ritzens und zur Übernahme von Verantwortung. Die Geschichte übersteigert das selbstverletzende Verhalten im Sinn einer Symptomverschreibung („das Symptom anordnen statt bekämpfen“ – dadurch wird es unspontan und anstrengend). Sie greift das Symptom wertschätzend, wenngleich auch liebevoll ironisch, auf. Sie spiegelt der Klientin die Polyvalenz des Ritzens als einem mutigen und selbsterniedrigenden Verhalten, als Appell und Abweisung der Umgebung, als Sich-spüren und Sich-schädigen, als Selbst-Dialog und symbolischer Selbst-Mord. Das Ritzen mit Messern wird gleichzeitig als Steigerung des vorherigen Selbstzerfetzens mit Dornen präsentiert und relativ belanglos nur am Rand erwähnt, so dass auch die Ambivalenz zwischen dem Bagatellisieren und dem Dramatisieren des Verhaltens nutzbar gemacht wird.