Gnädig

Wir unterhielten uns über Musik. „Das Ohr ist gnädig“, sagte sie. „Es hört das, was gemeint ist und nicht das, was tatsächlich gespielt wird.“ Die Dame, die das sagte, war Klavierlehrerin. Seit Jahrzehnten unterrichtete sie Schüler und hatte sich ihre Gedanken gemacht, wie Ohr und Gehirn die Musik verarbeiten. „Das Ohr ist gnädig“, wiederholte ich.  „Wie meinen Sie das?“ Sie sagte: „Wenn wir als Publikum Musik hören, blenden wir meistens die Fehler aus. Wir hören, was gemeint ist. Was im Bewusstsein ankommt, ist dann die vollkommene Melodie. Die Künstler und die Lehrer achten auf die Fehler, aber das Publikum hört die Musik.“

Ich erzähle diese Geschichte Menschen, die sich selbst oder anderen nicht leicht verzeihen, Perfektionisten der Ästhetik, des Wissens, des Erfolgs und der Moral wie überhaupt Menschen, die auf das Fehlende leichter als auf das Erreichte schauen.

Der Karteischrank

Ich hatte früher in meinem Büro einen Karteischrank mit vielen Schubladen. Als ich meinen Karteischrank kennenlernte, dachte ich zuerst, etwas an ihm sei kaputt: Es war nicht möglich, zwei seiner Schubladen gleichzeitig zu öffnen. War eine Lade herausgezogen, so waren alle anderen verschlossen. Sie ließen sich rütteln, aber öffnen ließen sie sich nicht. So lange, bis die Schublade zurückgeschoben hatte; dann konnte ich eine andere Lade herausziehen.

Wenn ich Menschen begegne, die sich mit vielen Problemen gleichzeitig beschäftigen, mit so vielen Problemen, dass sie sich davon überfordert fühlen, dann bitte ich sie manchmal, sich einen Karteischrank vorzustellen. Ich bitte sie, die oberste Schublade zu öffnen, das erste Problem hineinzulegen, sich den Inhalt noch einmal anzuschauen, die Lade mit einem Etikett zu versehen und sie wieder zu verschließen. Ebenso bitte ich sie mit den weiteren Problemen und den übrigen Schubladen umzugehen. Ich sage ihnen: „Sie können den Schrank nun geschlossen halten und werden ihre Probleme, wenn sie sie geordnet angehen wollen darin wiederfinden. Sie werden aber nicht alle Schubladen gleichzeitig öffnen können, sondern nur eine auf einmal. Sollten Sie mehrere Probleme gleichzeitig behandeln wollen, müssen Sie den Inhalt einer Schublade für eine kurze Zeit herausnehmen und ihn später wieder hineinlegen. In den meisten Fällen bewährt es sich aber, die Dinge in den Schubladen zu lassen, in die sie hineingehören. So haben Sie Ordnung und können sich auch den Dingen zuwenden, die Ihnen mehr Spaß machen und Ihnen Kraft geben.“

Der Seemann

Er war ein Seemann. Er war mit Frachtschiffen in verschiedene Länder entlang der Küsten von Europa, Afrika und Südamerika gefahren. Ob er einmal einen schweren Seesturm erlebt hätte, fragte ich ihn. „Ich habe viele Stürme erlebt“, sagte er. „Ich habe Stürme erlebt, bei denen ich dachte: Das überleben wir nie!“ Und da stand er vor mir und hatte überlebt und konnte erzählen, was er erlebt hatte. (Der Grashalm in der Wüste, S. 95 f.)

Die Geschichte erzähle ich Menschen, die vor einer Prüfung oder schweren Bewährungsprobe stehen. Sie leitet dazu an, über ein gedachtes Ende der Welt hinweg zu denken und sich bewusst zu machen, dass auch die früheren Enden der Welt (im Leben anderer Menschen oder im eigenen Leben) von einem neuen Tag gefolgt waren.