Eine Beerdigung für den Kopfschmerz

Die folgende Geschichte gibt ein Beispiel, wie Familienbeziehungen und Rituale genutzt werden können, um Belastungen wie Schmerzen und Angst zu beeinflussen.

Eine Kunstlehrerin bat um Anregung, wie sie einer 18jährigen Schülerin aus der 12. Kursstufe weiter helfen könne, die sie um ihre Unterstützung gebeten habe. Im Unterricht hatten die Schüler Bilder und Texte dazu gestaltet, wie sie sich ihre Zukunft jeweils im günstigsten und schlimmsten Fall ausmalten. Diese Schülerin berichtete, dass sie überzeugt sei, an Krebs zu erkranken oder schon erkrankt zu sein. Sie teilte mit, das Problem habe begonnen, als ihre Oma an Krebs verstorben sei. Krebs sei erblich, und so habe sie damals schon Angst entwickelt. Dann habe ihre Mutter einen Tumor im Kopf bekommen. Sie selbst habe immer wieder starke Kopfschmerzen und habe Angst, selbst an Krebs zu erkranken. Sie habe sich schon eingehend untersuchen lassen. Bislang sei noch nichts gefunden worden. So warte sie, bis der Befund zu Tage trete.
Ich schlug der Lehrerin vor, sie möge ihre Schülerin bitten, ein Bild zu malen, wie die Kopfschmerzen aussehen, wenn man sie denn sehen könnte. Die Lehrerin solle dann die junge Frau bitten, das Bild im Grab ihrer Oma zu beerdigen. Sie könne sich mit ihr, halb scherzhaft, halb ernsthaft, einigen, dass die Oma, die bestimmt viel Gutes für ihre Enkelin getan hat, ihr die Schmerzen und das, was dahintersteckt, bestimmt gerne abnehmen wird und es irgendwo hinbringt, wo es niemanden stört. Wenn die junge Frau möchte, kann sie ein zweites Bild vom Krebs malen und mit diesem dasselbe tun.

Weiter möge die Lehrerin ihr mitteilen, dass sich nach der Beerdigung des Bildes aufgrund psychologischer Gesetze alle Kopfschmerzen, die von Trauer, Befürchtungen und Identifikationen mit der Oma oder der Mutter herrührten, schnell auflösen dürften. Falls tatsächlich noch etwas übrig bleiben sollte, habe dieser Teil des Schmerzes vielleicht eine körperliche Signalfunktion – allerdings gehe es wahrscheinlich um etwas anderes als um Krebs.

Achtzehn Tage später teilte die Kunstlehrerin mit: Die Anweisungen „für das Kopfweh und die Oma […] hat die junge Frau voller Freude aufgegriffen und für sich umgesetzt. In dieser Zeit ist sie auch direkt zu einem Arzt gegangen, hat selber gefragt und für sich klären können, dass sie gar nichts hat. Und weg war das Kopfweh. Es ist jetzt sicher gut bei der Oma aufgehoben.“

(Stefan Hammel, Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung. Klett-Cotta 2011, S. 57)

Polizeiphobie

Ein Mann kam in Therapie, nachdem er neun Monate wegen Steuerdelikten inhaftiert gewesen war. Er sagte: „Ich habe ein Problem, wenn jemand Türen schlägt. Im Knast werden ständig Türen geschlagen. Die Aufseher wecken dich nachts um drei. Sie schlagen die Zellentür auf und knallen sie wieder zu, Sie durchsuchen deine Zelle nach Drogen und knallen wieder die Türe zu. Im Knast knallen immer irgendwelche Türen. Ich muss mich zweimal in der Woche auf der Polizeiwache melden. Das gehört zu meinen Auflagen für die Aussetzung der Haft. Das ist sehr unangenehm. Jedes Mal, wenn ich Polizisten sehe oder ein Polizeiauto oder etwas, was mit der Polizei zu tun hat, bekomme ich solche Angst, dass es mir die Luft wegnimmt.“
Ich fragte: „Gibt es einen Unterschied zwischen Gefängnisaufsehern und Polizisten?“ Weiterlesen

Seminar: Therapeutisches Erzählen mit Kindern

In Kaiserslautern halte ich am 2.3.-4.3. ein Seminar mit konkreten, schnell umsetzbaren Methoden zum Therapeutischen Erzählen mit Kindern und Jugendlichen. Dabei geht es auch um die Frage, wie wir das eigene Erleben, die Erfahrungen, Verhaltensweisen und medialen Gewohnheiten der Kinder für die Therapie utilisieren, also für die Problemlösung nutzbar machen – und das auf eine so kreative, unterhaltsame Weise, das die Kinder und Jugendlichen Spaß am Gespräch haben und manche Probleme sich scheinbar aus Versehen lösen.

Die dahinter stehende Frage ist: Wie können wir therapeutisch mit Kindern und Jugendlichen im Gespräch sein, ohne sie zu belehren oder zu langweilen, ohne sie zu unter- oder überfordern? Aus dem Ansatz der hypnosystemischen Beratung hat Stefan Hammel sein Konzept des therapeutischen Geschichtenerzählens entwickelt.

Inhaltlich setzt das Seminar drei besondere Schwerpunkte:
– Geschichten zu Aggression und Ängstlichkeit (z.B. Mobbing in der Schule)
– Geschichten für Bock- und Ahnungslose, Computer-Kids und Herbeigeschleppte…
– Geschichten bei Depression und Autoaggression (z.B. Ritzen)

Vorgestellt und eingeübt werden wichtige Aspekte des therapeutischen Erzählens. Vielfältige Vorgehensweisen werden anhand bewährter Geschichten für Kinder und Jugendliche demonstriert und mit praktischen Übungen so eingeübt, dass die Techniken von den Teilnehmern eigenständig eingesetzt werden können. Eingegangen wird auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sowie auf Therapieansätze bei den genannten Themenschwerpunkten. In den Blick kommen neben Fabeln für Kinder Beispielgeschichten aus dem Leben anderer Jugendlicher oder aus der Welt der Stars, Metaphern aus Natur und Technik sowie imaginierte Computerspiele und Filme.

Der Preis für das 3-tägige Seminar (18 Zeitstunden) in Kaiserslautern liegt bei 300 Euro (Studenten und Nichtverdiener die Hälfte). Eine günstige Unterbringung (30 Euro / Nacht) im Institut für Hypno-Systemische Beratung ist möglich. Wer Fragen hat oder sich anmelden möchte, meldet sich unter o631-37o2o93 oder per E-mail.

Friedensschluss mit einem Zahn

Die Geschichte, die ich gestern erzählt habe, hat noch eine Vorgeschichte…

Nach einer Zahnbehandlung war mein Backenzahn empfindlich geworden. Noch nach Wochen genügte der kleinste Windhauch, die kleinste Berührung – schon meldete er sich schmerzhaft zu Wort. Dabei war die Behandlung so positiv verlaufen! Die Anästhesie hatte gut gewirkt, die Zeit auf dem Behandlungsstuhl war fast ohne Schmerzen vergangen. „Wahrscheinlich musst du dir den Nerv ziehen lassen. Bei mir war das auch so“, erklärte mir eine Freundin. „Nein“, war meine Antwort. Aber was tun? „Lieber Backenzahn“, sprach ich den Zahn an. „Ich möchte dir gerne eine Geschichte erzählen. Und ich erzählte ihm die Geschichte vom schlafenden Hund und dem Einbrecher. Dann fuhr ich fort: „Lieber Backenzahn, du hast Recht, dass du dich meldest. Denn deine Aufgabe ist es, zu schmerzen, wenn du verletzt wirst. Aber die Missgefühle, die du jetzt erzeugst, gehören in eine frühere Zeit. Erinnere dich noch einmal intensiv an jene Zahnbehandlung. Bringe die Schmerzen, die du jetzt hast, dort hin. Erlebe sie dort in der Erinnerung noch einmal intensiv, und dann lass sie dort, in jener Situation, die einmal war und jetzt vorüber ist.“ Der Zahn tat, wie ich sagte und verhielt sich von da an ruhig.

(Stefan Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kindertherapie, Hielkunde, Coaching und Supervision. Klett-Cotta 2009, S. 77f.)

Schlafende Hunde

Die Geschichte „Schlafende Hunde“ habe ich zunächst für die Auflösung von Phantomschmerzen, postoperativen Schmerzen und Hypersensitivität entwickelt. Sie kann außerdem zur Aufhebung von Schmerzen in Reaktion auf traumatische Ereignisse hilfreich sein. Bei traumatisierten Patienten kann sie auch als Suggestion dafür dienen, unpassende (getriggerte) Reaktionen auf alltägliche Situationen zu identifizieren, zu würdigen und loszulassen.

Ein Einbrecher wollte in eine Villa eindringen. Doch neben dem Haus lag ein großer, gefährlicher Wachhund. Um diese Gefahr zu umgehen, warf der Einbrecher ein Fleischstück in den Garten, das er mit einem Betäubungsmittel getränkt hatte. Als der Hund in einen tiefen Schlaf gefallen war, drang er in die Villa ein und nahm alles mit, was er brauchte. Als der Einbrecher fort war, erwachte der Hund. Er roch an der Spur des Entkommenen und bellte und bellte und bellte… Dabei war der Einbrecher längst fort. Der Hausherr hörte den Hund bellen und kam zu ihm. Er lobte seine Treue und Zuverlässigkeit, redete freundlich mit ihm, begütigte ihn, bis der Hund allmählich selbst ruhiger wurde, bis der Hund immer weniger bellte, bis der Hund immer leiser bellte, bis der Hund schließlich aufhörte, zu bellen, bis er schließlich ganz still wurde und schwieg, bis der Hund schließlich einschlief. Er wusste, er war ein guter Wachhund. Jetzt konnte er ruhen.

(Stefan Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision, S. 77f.)

 

Erektionsstörung

In der nächsten Zeit möchte ich gerne ein paar der Situationen beschreiben, die in der Therapie auftauchen.

Ein Mann kam beispielsweise zu mir mit dem Wunsch, eine Erektionsstörung zu beheben. Das Problem sei erstmals aufgetreten, nachdem er mit seiner jetzigen Freundin zusammen sei. Er finde sie äußerst attraktiv, sie allerdings beziehe das Problem auf sich und fühle sich sehr gekränkt. Dadurch werde die Beziehung belastet.
Nachfragen nach weiteren Problemen in der Partnerschaft und nach besonderen Ereignissen, die auslösend gewirkt haben könnten, blieben ergebnislos. So erklärte ich dem Mann, es wäre möglich, dass die Schwierigkeit gewissermaßen aus dem Nichts entstanden sei, sich selbst aufrechterhalte und nur eine einmalige Unterbrechung der kreisförmigen Dynamik des Problems notwendig sei, um es zu beheben. Ich äußerte die Gewissheit, dass das Symptom, wenngleich mit ungünstigem Ergebnis, eine gute Absicht verfolge und fragte ihn:
Wenn der Persönlichkeitsanteil, der das Symptom erzeugt, etwas Gutes für ihn erreichen wolle, was wäre dies? Welche Angst oder Befürchtung drückt er aus, und wovor möchte er Sie folglich schützen?
Ich bat ihn, mir die fünf ersten Impulse zu nennen, die ihm dazu einfielen. Der Mann erklärte, das Erektionsproblem könne die Angst ausdrücken, nicht männlich genug zu sein, seine Freundin zu kränken, von ihr verlassen zu werden, dass seine Angst den Austausch von Zärtlichkeiten unmöglich mache und dass er ein sexuelles Problem habe, das er nicht lösen können werde.
Ich notierte seine Antworten und las sie ihm einzeln nochmals vor.
Nach dem Verlesen der ersten Antwort teilte ich ihm mit, ich spräche nun mit dem Persönlichkeitsanteil, der diesen Satz hervorgebracht habe und lobte diesen Anteil für sein Engagement zum Schutz des Klienten. Ich erklärte, es bestünde trotz bester Absicht von seiner Seite ein Missverständnis und seine Methode erbringe nicht das gewünschte Ergebnis und fragte ihn, ob er bereit wäre, probeweise für eine Woche still zu sein und zuzuschauen oder auch für diese Zeit zum Wohl des Klienten probeweise das Gegenteil des Bisherigen zu tun. Wenn das Verhalten sich bewährte, solle er anschließend mehr desselben tun, wenn nicht, dürfe er zum bisherigen Muster zurückkehren oder etwas Neues probieren. Er möge sich des Kopfes des Klienten bedienen und seine Antwort durch Nicken oder Kopfschütteln mitteilen. Der Persönlichkeitsanteil stimmte dem zu.
Dieselbe Vereinbarung traf ich mit den anderen vier Anteilen, von denen mir der Mann mitgeteilt hatte, dass sie seine Sexualität blockierten.
Die Erektionsstörung verschwand innerhalb der nächsten Tage.

Die Fallsituation habe ich beschrieben und weiterführend besprochen in: Stefan Hammel, Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, S. 102ff.

Geld… regiert die Welt

Den Beginn des Jahres und das orthodoxe Weihnachtsfest am 6. und 7. Januar haben wir in Bethlehem erlebt. Ich möchte einige Gespräche wiedergeben, die mich bis jetzt immer wieder beschäftigen.

An einem der Tage kurz nach Weihnachten kam ich mit einem aramäischen Souvenirhändler ins Gespräch. Sein Großvater sei 1917 hierher gekommen. Die Aramäer seien wie die Armenier im Osmanischen Reich verfolgt gewes; hier hätte seine Familie eine Zuflucht gefunden, und so sei er hier zuhause. Auf den Frieden oder Unfrieden im Nahen Osten angesprochen sagte er:

Ich hatte hier einen amerikanischen Kunden, der sich erstaunlich gut mit den Verhältnissen hier in Palästina auskannte. „Was machen Sie beruflich?“, fragte ich ihn. „Ich bin im Ruhestand.“ „Das habe ich mir schon gedacht, aber was haben Sie früher gemacht?“ „Ich… war amerikanischer Senator.“ „Und was machen Sie jetzt hier?“ „Ich möchte versuchen, etwas für Palästina zu tun und will herausfinden wie ich hier etwas für die Bevölkerung tun kann.“ „Hätten Sie das so auch gesagt, als Sie noch Senator waren?“ „Das war schwierig.“ „Jetzt haben Sie viel weniger Einfluss als früher. Warum haben Sie damals nichts für Palästina getan?“ „Sehen Sie, wenn beispielsweise ein jüdischer Geschäftsmann Ihnen 40 Millionen Dollar für Ihren Wahlkampf bezahlt hat, dann möchten Sie im Senat nicht gegen seine Interessen arbeiten. Und wenn die Legislaturperiode dem Ende entgegen geht, dann werden Sie umso mehr bemüht sein, sich in seinem Interesse zu verhalten, damit Sie die 40 Millionen Dollar beim nächsten Mal wieder bekommen…“

„Hat der Senator das so zu Ihnen gesagt, oder enthält das eine Interpretation von Ihnen?“, fragte ich. „Er hat das so gesagt.“

„Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist weniger eine Frage der lokalen Interessen als eine Frage weltweiter wirtschaftlicher Interessen. Und das Gleichgewicht der Mächte in der Welt verändert sich“, sagte er auch. „Die Amerikaner haben kein Geld mehr, und China hat kein Interesse an Israel sondern am Handel mit der Arabischen Welt… Diese Mauer, die Sie hier sehen, die Israelis und Palästinenser trennt, die wird nicht so lange stehen. Sie wird fallen, wie die Mauer bei Ihnen gefallen ist. Wir werden es erleben.“

 

Spielend III

Wenn du ein Musikstück schnell spielst, kannst du jede Schlamperei verstecken. Jeder zu kurze, zu lange, schlecht gespielte oder falsche Ton wird sofort von einem anderen abgelöst. Darum ist es schwieriger, ein Stück langsam zu spielen als schnell. Wer langsam spielen kann, kann spielen!

(S. Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens, S. 235)

Occupy Wall Street, oder: Aufklärung heute

„Der Grund, warum wir hier sind, ist, weil wir genug haben von der Welt, … in der 1 % an die verhungernden Kinder geht. Das reicht, um uns ein gutes Gefühl zu geben. Nachdem wir die Arbeit und die Folter outgesourct haben. Und die Partneragenturen outsourcen unser Liebesleben täglich. Wir erkennen, dass wir für eine lange Zeit unser politisches Engagement outgesourced haben. Wir wollen es zurück.“

Das hat am Wochenende der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek in einer Rede in Wall Street geäußert. Sehr bemerkenswert an dieser Occupy-Wall-Street-Bewegung scheint mir, dass diese Leute die Ursache der ökonomischen Misere vieler Amerikaner und vieler Menschen in anderen Ländern nicht ausschließlich in einem Fehlverhalten von Politikern und Spekulanten sehen. Sie sehen die Ursache in einem System, von dem sie selbst ein Teil sind. Sie wollen dieses System verändern und dabei offenbar bei sich selbst anfangen.

Wer auf die Website von Occupy Wall Street schaut, findet dort auch deren Veranstaltungskalender. Am Wochenende gab es neben der Vorlesung des Philosophen und Kulturkritikers Zizek dort eine Vorlesung eines Philosophieprophessors aus der Schweiz über „das Ende des Finanzdenkens und die transformation der globalen Klassenstruktur“. Gestern gab es eine Gedenkveranstaltung zum Genozid an den Eingeborenen Amerikas, eine „Einführung in Basisdemokratie“, heute vermittelt eine Professorin „Grundlagen des Aktienmarktes“, danach gibt es einen Vortrag „Warum soziale Ungleichheit die Wirtschaft destabilisiert (und was wir dagegen tun können)“.

Es ist bemerkenswert, dass diese Leute sich selbst als Teil des Systems, das sie unterdrückt hat, wahrnehmen und daran arbeiten, sich ihre politische Mündigkeit von diesem Standpunkt aus aktiv zurückerobern.

Das erinnert an die Gedanken, die Immanuel Kant vor langer Zeit geäußert hat:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen …, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

In der Medizin und Psychotherapie wünschen viele Patienten und Klienten weiterhin, dass der Fachmann oder die Fachfrau für sie wissen möge, was richtig ist. Ich werde nicht müde, meinen Klienten zu sagen: „Sie sind die Königin! Sie sind der König. Die Ärzte und Berater und aucIhrychotherapeut – wir sind nur Ihre Minister.“ Manchmalfüge ich noch hinzu: „Wir haben spezielle Erfahrung, die Ihre Erfahrung wertvoll ergänzt. Aber wir machen nur Vorschläge, und Sie entscheiden, was Sie annehmen und was Sie verwerfen. Sie können mich jederzeit entlassen.“ Ich habe den Eindruck, manche Klienten verwundert das, und viele wollen das auch gar nicht. Sie wollen, dass ich für sie entscheide, was gut ist.

Zum Glück scheint die Zahl derer mehr zu werden, die nicht behandelt werden möchte, sondern beraten. Und die dann selbst entscheiden, was sie wählen und was sie verwerfen. Indessen – sicher bin ich mir darüber nicht. Ich weiß nur, dass ich es mir wünsche.

Das Myom II

„Wenn du heute Nachmittag aufwachst“, so sagte ich zu der Freundin, „ist die Operation vorüber, und das Myom ist weg. Du hast dich gefragt, ob es einen Auslöser für seine Entstehung gab. Eigentlich ist es egal, was der Auslöser war. Was du tun kannst, ist dies: Erinnere dich an belastende und vielleicht traumatische Erlebnisse und an andere Dinge, die du loslassen und loswerden möchtest. Packe alles, was du nicht mehr brauchst, in Gedanken in das Myom. Und wenn du heute Nachmittag aufwachst, hast du sie mit auf den Weg geschickt.“

Die Freundin äußerte später, sie habe den Vorschlag umgesetzt und ihre Reaktionen auf verschiedene belastende Erlebnisse ihrer Vergangenheit in das Myom verlagert. Sie habe das Vorgehen als befreiend erlebt. Nach der Operation habe sie sich sehr schnell erholt und habe sich kraftvoller und aktiver als in den Monaten zuvor gefühlt.