Geschichten in der Kindertherapie

Gestern hat mich eine Kollegin in einem Forum mit Blick auf Geschichten in der Therapie mit Kindern gefragt: „Wie gehen Sie vor? Die Geschichten werden einfach erzählt, resp. vorgelesen und nicht kommentiert?“ Ich hab das mal so beantwortet:

Wenn die Geschichte gut zur Situation passt, kann sie einfach unkommentiert erzählt oder vorgelesen werden. Die Geschichte sollte analog zum Problem des Kindes strukturiert sein und metaphorisch oder beispielhaft eine erfolgreiche Lösung (Lösungsart, Lösungsstruktur) anbieten. Die Analogie zum Problem und das bereits bestehende Beratungssetting (das Kind weiß: wir sind hier zur Beratung wegen Problem XY) sorgen dafür, dass die Geschichte vom Unbewussten als Lösung identifiziert wird. Darum ist kein Kommentar nötig, der Kontext ist der Kommentar.

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Bei sexueller Belästigung…

Eben rief mich eine frühere Kollegin an und bat mich um Rat. Die Haushaltshilfe einer Bekannten werde regelmäßig von einem Nachbarn sexuell belästigt, indem er sich ihr auf der Terrasse in exhibitionistischer Weise zeige. Bei anderen Gelegenheiten mache er anzügliche Bemerkungen zu ihrer Figur, Wäsche, usw. Natürlich ziehen sie ein polizeiliches Vorgehen in Betracht, versprechen sich davon aber wenig Hilfe. Was man da noch machen könne… Weiterlesen

Die Zitterspinne (II)

Vielleicht sagst du: Ja, nee; so wie die Zitterspinne kann ich mein Problem nicht angehen. Das Problem lässt sich von mir nicht einwickeln.

Die Zitterspinne hat noch ein zweite Problemlösungsstrategie. Daher hat sie ihren Namen. Bei großen Tieren und bei Menschen macht die Zitterspinne folgendes: Sie bringt sich mitsamt ihrem Netz in eine so schnelle, anhaltende rotierende Schwingung, dass man für lange Zeit gar nicht mehr sieht, wo sie sich gerade befindet.

Zugegebenermaßen wirkt die gestern geschilderte Methode nachhaltiger. Aber in manchen Fällen lohnt es sich auch, zu rotieren oder sich eben auf andere kreative Weisen unsichtbar zu machen. Die Tierwelt vielfältige Anregungen zur Methodik des Sich -unsichtbar-machens.

Gregor, der Drache

Diese Geschichte habe ich einem Jungen erzählt, der seine Schwester und Kindergartenfreunde blutig gekratzt und blau geschlagen hat. Bestimmt gibt es noch mehr Kinder, für die die Geschichte geeignet ist. Vielleicht ja auch Erwachsene?

Gregor der Drache schnaubte. Er war traurig und wütend. Den ganzen Tag hatte er Spielkameraden gesucht. Keiner wollte mit ihm spielen. Er hatte den Fuchs gefragt. „Nein, lieber nicht“, hatte der gesagt. „Du verbrennst uns nur wieder Haut und Haare mit deinem feurigen Atem.“ Der Dachs, der Hase, und der Bär hatten ähnliche Antworten gegeben. Dabei hatte er ihnen gar nicht absichtlich das Fell verbrannt. Es war ihm nur so passiert. Allermeistens jedenfalls. Weiterlesen

Heiliger Zorn

Diese Geschichte hat der amerikanische Therapieentwickler Milton Erickson erzählt:

Eine Frau war mit ihrem Mops unterwegs. Aus einiger Entfernung sah sie ein Schäferhund und stürzte wütend auf die beiden zu. Was tun? Die Frau nahm ihren Mops auf den Arm und rannte dem Schäferhund zähnefletschend entgegen. Der Schäferhund ergriff die Flucht.

Lesenswert: 75 Fabeln für Zeitgenossen

Das Buch von James Thurber „75 Fabeln für Zeitgenossen“ ist schon 40 Jahre alt, also für einige von uns schon gar nicht mehr so zeitgenössisch. Aber zum Glück veralten Fabeln nie. Zeitgenössisch an Thurbers zeitgenössischen Fabeln ist auch eher die moderne, leichte, heitere Sprache, die dazu beigetragen hat, Thurber und seine Fabeln bekannt zu machen. Charakteristisch ist sein englischer Humor; viele Fabeln sind schwarzes, etwa nach dem Motto: „Always look on the bright side of life“. Gerade deshalb eignen sie sich als humorvoll „warnende Metaphern“ (ein Ausdruck von Bandler und Grinder). Obwohl unter den Fabeln eine „Moral“ steht, wirkt das Buch nicht „moralisch“, eher führt es ein in die Kunst des Überlebens – als Schaf unter Wölfen, oder auch als Fliege…

Eine große Spinne hatte in einem alten Haus ein schönes Netz gewoben, um Fliegen zu fangen. Jedesmal, wenn eine Fliege sich auf dem Netz niederließ und darin hängenblieb, verzehrte die Spinne sie schleunigst, damit andere Fliegen, die vorbeikamen, denken sollten, das Netz sei ein sicherer und gemütlicher Platz. Eines Tages schwirrte eine ziemlich intelligente Fliege so lange um das Netz herum, ohne es zu berühren, daß die Spinne schließlich hervorkroch und sagte: „Komm, ruh dich ein bißchen bei mir aus.“ Aber die Fliege ließ sich nicht übertölpeln. „Ich setze mich nur an Stellen, wo ich andere Fliegen sehe“, antwortete sie, „und ich sehe bei dir keine anderen Fliegen.“ Damit flog sie weiter, bis sie an eine Stelle kam, wo sehr viele Fliegen saßen. Sie wollte sich gerade zu ihnen gesellen, als eine Biene ihr zurief: „Halt, du Idiot, hier ist Fliegenleim. Alle diese Fliegen sitzen rettungslos fest.“ „Red keinen Unsinn“, sagte die Fliege. „Sie tanzen doch.“ Damit ließ sie sich nieder und blieb auf dem Fliegenleim kleben wie all die anderen Fliegen. (S.8)

James Thurber, 75 Fabeln für Zeitgenossen.
Hamburg (Rowohlt) 1967

Die Brille

Heute Nacht hatte ich einen Traum.

Mein linker Brillenbügel war verbogen und ich wollte ihn reparieren, damit die Brille wieder gut sitzt. Ich habe ihn zweimal hin und her gebogen – und dann war er ab. Ich habe ihn an die Brille gehalten. Er war am Scharnier abgebrochen. Reparieren ließ sich das nicht mehr. Was tun? Ich habe die Brille angezogen, in der Hoffnung, dass sie noch einigermaßen sitzt. Aber sie hing mir schräg auf dem Gesicht. Der Blick durch die Gläser war verzerrt, und ungemütlich war es auch. Man musste sie ständig festhalten. Der Optiker hat sonntags zu. Was ist in einem solchen Fall die beste Lösung? Ich dachte nach.

Da fiel mir ein: Ich habe mir vor über einem halben Jahr die Augen gegen Kurzsichtigkeit lasern lassen. Warum trage ich denn diese doofe Brille überhaupt noch? Und ging ohne weiter.

Der Grund, warum Metaphern in der Beratung so eine unglaubliche Wirkung haben, ist der, weil unser Unbewusstes in Metaphern organisiert ist: Unsere Träume sind Metaphern. Selbst die Rituale der Tiere beim Balzen und beim Klären von Rangordnungen sind Metaphern. Bevor wir in Sprache gedacht haben, haben wir in Metaphern gedacht. Darum haben die Propheten und Weisen aller Zeiten Geschichten erzählt. Und dieser Traum wird mir Anlass geben, mir die Brille anzuschauen, durch die ich meine Welt betrachte. Diesmal werde ich mich nicht mit Reparieren aufhalten.

Lesenswert: Der Rabbi hat immer recht

Das Büchlein von Rabbi Nilton Bonder „Der Rabbi hat immer recht – Die Kunst, Probleme zu lösen“ gibt eine verständliche Einführung in rabbinische Logik. Das heißt, jüdische Anekdoten und Witze werden philosophisch fundiert interpretiert und in einem Gesamtzusammenhang des rabbinischen Denkens dargestellt. Systematisch werden die verschiedenen Fragetechniken und Neudeutungen (Reframings) der Realität unter die Lupe genommen. Die Geschichten, die er erzählt, sind köstlich. Gedacht ist das Buch aber wahrscheinlich nicht als Geschichtensammlung, sondern als methodischer Leitfaden, wie man in jeder erdenklichen Lebens- und Beratungslage zu hilfreichen neuen Sichtweisen kommt. Besonders für Freunde von Beratungstechniken, von brillianter Lösungsfindung, von verständlicher Philosophie, und von jüdischem Denken!

Rabbi Nilton Bonder, Der Rabbi hat immer recht: Die Kunst, Probleme zu lösen
Zürich, München (Pendo) 2001

Lesenswert: Träume vom Überleben

Das Buch von Yaffa Eliach heißt mit vollem Titel: „Träume vom Überleben – Chassidische Geschichten im 20. Jahrhundert“.

Yaffa Eliach hat als kleines Kind den Holocaust überlebt, weil ihre erschossene Mutter auf sie fiel und sie vor den Augen der Mörder verbarg. Später hat sie Geschichten von anderen Überlebenden gesammelt und untersucht, mit welchen Glaubenshaltungen, mentalen Strategien und praktischen Vorgehensweisen sie ihr Leben bewahrt haben. Ihr Buch bietet eine kostbare Sammlung von Geschichten, wie Menschen sich in der Zeit des Grauens den Glauben an Sinn und Hoffnung bewahrt haben. Dabei treten die unterschiedlichsten Haltungen und Strategien hervor. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Mut machen, selbst in katastrophalen Situationen auf Lösungen und sinngebende Antworten zu schauen. Geschrieben sind die Geschichten, die alle auf realenErlebnissen beruhen, im Stil chassidischer Legenden. Ein Anhang mit Endnoten zu jeder Geschichte beleuchtet den historischen Hintergrund.

Sehr eindrucksvoll!

Yaffa Eliach, Träume vom Überleben: Chassidische Geschichten aus dem 20. Jahrhundert
Freiburg, Basel, Wien (Herder) 1985

Der Geschichtenerzähler (VI)

Und Folge sechs…

Der Geschichtenerzähler sagte:

„Es lebte in unserer Stadt ein bekannter Mann, der sollte einst vor vielen Menschen und gar vor dem König eine Rede halten. Nun sah er sich in der Runde um und fand dort eine solche Übermacht an klugen und gelehrten Menschen, dass er sich gar nicht mehr klug zu sein dünkte und vergaß, wie er sich sonst selbst zu helfen wusste und sich am liebsten in den Erdboden verkrochen hätte. Doch das war nicht möglich. Was tat dieser Mann?“

Mit diesen Worten verstummte der Alte. Verzweifelt fragend Weiterlesen