Das Buch von James Thurber „75 Fabeln für Zeitgenossen“ ist schon 40 Jahre alt, also für einige von uns schon gar nicht mehr so zeitgenössisch. Aber zum Glück veralten Fabeln nie. Zeitgenössisch an Thurbers zeitgenössischen Fabeln ist auch eher die moderne, leichte, heitere Sprache, die dazu beigetragen hat, Thurber und seine Fabeln bekannt zu machen. Charakteristisch ist sein englischer Humor; viele Fabeln sind schwarzes, etwa nach dem Motto: „Always look on the bright side of life“. Gerade deshalb eignen sie sich als humorvoll „warnende Metaphern“ (ein Ausdruck von Bandler und Grinder). Obwohl unter den Fabeln eine „Moral“ steht, wirkt das Buch nicht „moralisch“, eher führt es ein in die Kunst des Überlebens – als Schaf unter Wölfen, oder auch als Fliege…
Eine große Spinne hatte in einem alten Haus ein schönes Netz gewoben, um Fliegen zu fangen. Jedesmal, wenn eine Fliege sich auf dem Netz niederließ und darin hängenblieb, verzehrte die Spinne sie schleunigst, damit andere Fliegen, die vorbeikamen, denken sollten, das Netz sei ein sicherer und gemütlicher Platz. Eines Tages schwirrte eine ziemlich intelligente Fliege so lange um das Netz herum, ohne es zu berühren, daß die Spinne schließlich hervorkroch und sagte: „Komm, ruh dich ein bißchen bei mir aus.“ Aber die Fliege ließ sich nicht übertölpeln. „Ich setze mich nur an Stellen, wo ich andere Fliegen sehe“, antwortete sie, „und ich sehe bei dir keine anderen Fliegen.“ Damit flog sie weiter, bis sie an eine Stelle kam, wo sehr viele Fliegen saßen. Sie wollte sich gerade zu ihnen gesellen, als eine Biene ihr zurief: „Halt, du Idiot, hier ist Fliegenleim. Alle diese Fliegen sitzen rettungslos fest.“ „Red keinen Unsinn“, sagte die Fliege. „Sie tanzen doch.“ Damit ließ sie sich nieder und blieb auf dem Fliegenleim kleben wie all die anderen Fliegen. (S.8)
James Thurber, 75 Fabeln für Zeitgenossen.
Hamburg (Rowohlt) 1967