Occupy Wall Street, oder: Aufklärung heute

„Der Grund, warum wir hier sind, ist, weil wir genug haben von der Welt, … in der 1 % an die verhungernden Kinder geht. Das reicht, um uns ein gutes Gefühl zu geben. Nachdem wir die Arbeit und die Folter outgesourct haben. Und die Partneragenturen outsourcen unser Liebesleben täglich. Wir erkennen, dass wir für eine lange Zeit unser politisches Engagement outgesourced haben. Wir wollen es zurück.“

Das hat am Wochenende der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek in einer Rede in Wall Street geäußert. Sehr bemerkenswert an dieser Occupy-Wall-Street-Bewegung scheint mir, dass diese Leute die Ursache der ökonomischen Misere vieler Amerikaner und vieler Menschen in anderen Ländern nicht ausschließlich in einem Fehlverhalten von Politikern und Spekulanten sehen. Sie sehen die Ursache in einem System, von dem sie selbst ein Teil sind. Sie wollen dieses System verändern und dabei offenbar bei sich selbst anfangen.

Wer auf die Website von Occupy Wall Street schaut, findet dort auch deren Veranstaltungskalender. Am Wochenende gab es neben der Vorlesung des Philosophen und Kulturkritikers Zizek dort eine Vorlesung eines Philosophieprophessors aus der Schweiz über „das Ende des Finanzdenkens und die transformation der globalen Klassenstruktur“. Gestern gab es eine Gedenkveranstaltung zum Genozid an den Eingeborenen Amerikas, eine „Einführung in Basisdemokratie“, heute vermittelt eine Professorin „Grundlagen des Aktienmarktes“, danach gibt es einen Vortrag „Warum soziale Ungleichheit die Wirtschaft destabilisiert (und was wir dagegen tun können)“.

Es ist bemerkenswert, dass diese Leute sich selbst als Teil des Systems, das sie unterdrückt hat, wahrnehmen und daran arbeiten, sich ihre politische Mündigkeit von diesem Standpunkt aus aktiv zurückerobern.

Das erinnert an die Gedanken, die Immanuel Kant vor langer Zeit geäußert hat:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen …, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

In der Medizin und Psychotherapie wünschen viele Patienten und Klienten weiterhin, dass der Fachmann oder die Fachfrau für sie wissen möge, was richtig ist. Ich werde nicht müde, meinen Klienten zu sagen: „Sie sind die Königin! Sie sind der König. Die Ärzte und Berater und aucIhrychotherapeut – wir sind nur Ihre Minister.“ Manchmalfüge ich noch hinzu: „Wir haben spezielle Erfahrung, die Ihre Erfahrung wertvoll ergänzt. Aber wir machen nur Vorschläge, und Sie entscheiden, was Sie annehmen und was Sie verwerfen. Sie können mich jederzeit entlassen.“ Ich habe den Eindruck, manche Klienten verwundert das, und viele wollen das auch gar nicht. Sie wollen, dass ich für sie entscheide, was gut ist.

Zum Glück scheint die Zahl derer mehr zu werden, die nicht behandelt werden möchte, sondern beraten. Und die dann selbst entscheiden, was sie wählen und was sie verwerfen. Indessen – sicher bin ich mir darüber nicht. Ich weiß nur, dass ich es mir wünsche.

Kleine Dinge zwischen Himmel und Erde

Einige Gedanken zum Himmelfahrtstag…

Der Himmel ist wohl doch keine von uns getrennte Welt: „Das Himmelreich ist mitten unter euch“ hat der Rabbi aus Nazareth gesagt, an dessen Entschwinden in den „Himmel“ der heutige Tag erinnert. Man kann den griechischen Originaltext auch übersetzen: „Das Himmelreich ist inwendig in euch“, weil „in“ und „zwischen“ im Griechischen dasselbe Wort ist. Also: „Der Himmel ist mitten in und mitten unter euch…“ Wenn er denn da sein darf. Wenn wir ihn da sein lassen. Aber manchmal kommt er auch überraschend.

Man lebt ja oft so ohne Himmel vor sich hin. Wahrscheinlich die meiste Zeit lebe und denke ich so, als habe alles seine Ursachen und Wirkungen irgendwo in der Welt der Physik und der Logik. Und manchmal geschehen Dinge, die ich mir nur durch das Wirken höherer Mächte erklären kann. Seltsame Welt…

Ich sah vor mir dieses Bild, mitten am Tag. Eine kleine Hütte mit Stroh gedeckt, am Rand eines Dorfes fern, fern in der Savanne Afrikas. Vor der Hütte spielten Kinder, und im Haus machte sich ihre Mutter mit dem Säubern und Ordnen von Gegenständen des täglichen Lebens zu schaffen. Ich sah dieses Bild, und ich erkannte: Das ist die Familie meines Nachbarn aus Kenia. Und ich wusste plötzlich: „Es geht ihnen gut.“ Ein seltsamer Tagtraum – ob ich ihm davon erzählen soll? Ich vergaß das Bild und ging meinen alltäglichen Geschäften nach. Drei Tage später fiel mir die Szene wieder ein und der Satz: „Es geht ihnen gut“. Ob das wohl etwas zu bedeuten hatte? Ich ging zu meinem Nachbarn. „Ich muss Ihnen einmal etwas erzählen. Ich hatte einen merkwürdigen Traum. Ich weiß nicht, was Sie davon halten…“, so erzählte ich ihm. Der Mann aus Afrika sah mich mit großen, ernsten und glücklichen Augen an. Dann brach es aus ihm hervor: „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Meine Familie schreibt mir bisher jeden Tag. Jetzt aber habe ich seit einer ganzen Woche nichts mehr von ihnen gehört. Ich bin in großer Sorge gewesen! Was Sie mir sagen, ist eine äußerst wichtige Nachricht für mich! Ich danke Ihnen…“ So wird man zum Briefboten.

Symptome in den Urlaub schicken

Manchmal schlage ich Klienten vor, mit ihren Körperteilen oder auch mit ihren Symptomen zu sprechen, mit ihrer Angst, ihrem Schwindel, ihren Schmerzen oder ihrem Ohrgeklingel. Manchmal bitte ich sie, ihnen etwas auszurichten, zum Beispiel, dass wir ihre positive Absicht sehen, den Klienten zu schützen und ihnen jetzt zeigen, wie die Symptome „ihrem Menschen“ noch besser als bisher helfen können. Manchmal schlage ich ihnen vor, ihre Symptome mit einer neuen Aufgabe zu betrauen, zum Beispiel einen bisher eher hinderlichen Ärger oder Grübelzwang zu bitten, zukünftig die Abwehr von Krankheitserregern zu unterstützen und sich somit beim Immunsystem nützlich zu machen. Manchmal schlage ich den Klienten auch vor, ihre Symptome als Dank für ihren unermüdlichen Einsatz in Urlaub zu schicken oder sie ehrenvoll in den Ruhestand zu versetzen – zuweilen auch verbunden mit der Bitte, in ganz besonderen Fällen noch einmal auf ihren Rat und ihre langjährige Lebenserfahrung zurückgreifen zu dürfen. Johannes Conzelmann, ein Kollege von mir aus Görlitz, den ich vor einigen Jahren im Bereich Hypnotherapie ausgebildet habe, nutzt diese Art, mit dem Körper und seinen Symptomen umzugehen, ebenfalls. Ich glaube, sein Sohn hat sich das von ihm abgeguckt. Der Kollege hat mir diese Woche jedenfalls Folgendes berichtet:

Mein Sohnemann Vincent (5) sollte gestern Abend, wie jeden Abend, ins Bett gehen und wie jeden Abend wollte er noch nicht. Ich versuchte also ihn davon zu überzeugen, dass er doch Müde sei, schließlich habe er sich schon die Augen gerieben.
Vincent überlegte kurz, guckte erst auf die Seite, dann wieder zu mir, grinste von einem Ohr bis zum anderen und sagte:
„Meine Müdigkeit ist gerade in Urlaub gefahren, da kann sie sich von dem blöden Augenreiben erholen. Komm jetzt, wir spielen noch ein bisschen!“
Tatsächlich war er für die nächste Dreiviertelstunde nochmal so munter, dass an schlafen gehen nicht zu denken war 🙂

Gespräche am Sterbebett

Wie spricht man mit Menschen im Koma? Und was kann man zu einem sterbenden Menschen sagen? Grundsätzlich Dinge, deren positive Ausrichtung sofort spürbar ist und die zugleich ehrlich sind. Grundsätzlich Dinge, die den Sterbenden als Lebenden respektieren. Grundsätzlich möchte ich weder so tun, als gäbe es kein Sterben, noch so, als wäre der andere schon nicht mehr da. Grundsätzlich möchte ich so reden, dass es das Mitdenken nicht schwerfällt: Ganz anschaulich, in Bildern, in Tagträumen, und möglichst in Worten, die dem anderen Menschen schon längst etwas bedeuten. Einige Gedanken aus meiner Arbeit als Pfarrer möchte ich hier anfügen.

Vor kurzem wurde ich ins Krankenhaus gerufen, zu einem schwer kranken Mann. Die Ärzte sagten, dass er in den nächsten Tagen oder Wochen sterben werde. Seine Frau, die sehr gläubig war, hatte mich gebeten, zu kommen. Als ich mit den beiden sprach, wurde bald deutlich: Er wollte kein Gebet, das Abschied bedeuten könnte. Er wollte leben. „Verstehen Sie“, sagte er, „Beten ist gut, aber jetzt geht es nicht. Jetzt ist nicht die Zeit. Vielleicht später“, sagte er. Ob ich aus der Ferne um Leben, um ein Wunder für ihn beten sollte, fragte ich. „Das ist gut“, antwortete er.
Am anderen Tag lag er im Koma. Es atmete in kurzen Stößen, und es war zu sehen, dass er im Sterben lag. Ich las ihm den Psalm vom guten Hirten vor, sprach ein Gebet, das Vaterunser und einen Segen. Wenn ich den Eindruck hatte, dass ihm eine Zeile des Psalms gut tat, las ich die Zeile zweimal oder dreimal. Ich las die Zeilen ruhig und mit Pausen vor, und wir hatten den Eindruck, dass darüber auch sein Atem immer ruhiger wurde. Sein Atem folgte meinem, und wenn ich sehr langsam sprach, setzte der Atem manchmal für eine Weile aus, um danach doch wieder ruhig weiterzufließen. Alles, was ihm Kummer oder Angst machen könnte, möge er ablegen, so bat ich ihn, wie an einer Garderobe Gottes. Was mit Schuld oder Vorwürfen zu tun hätte, alle Gedanken, die was ihm nicht gut täten und alles, was er nicht braucht, möge er wie Kleider ablegen bei Gott. Nach diesen Worten von meiner Seite sprach auch seine Frau mit ihm über das Loslassen: Davon, dass Sie ihn nicht festhalte, dass er loslassen dürfe und davon, dass er seine Liebe zu ihr auch von der anderen Seite aus ausdrücken kann. Es scheint mir ganz deutlich so, dass er das hören und für sich annehmen konnte. Etwa eine viertel Stunde später starb er ruhig, ohne Kampf.

Noch einmal Schnarchen

Heute hatte ich eine Frau in der Beratung, die es nervt, dass ihr Mann schnarcht. Es fällt ihr schwer, dabei zu schlafen, während er nicht von ihr geweckt werden möchte. So schlafen sie meistens in getrennten Betten, was sie aber auch bedauern. Beim letzten Mal hatte ich ihr einige Methoden gezeigt, wie man dafür sorgen kann, dass einen das Schnarchen nicht mehr stört oder dass der Partner nicht mehr schnarcht (www.stefanhammel.de/blog/2008/01/08/383/). Jetzt kam sie wieder und sagte: „Das hat alles nicht so funktioniert. Außerdem überzeugt es mich nicht, mir das Schnarchen meines Mannes schön zu reden. Es nervt eben doch.“ Schließlich sagte ich, der Anteil ihrer Persönlichkeit, der sich über das Schnarchen ärgere, wolle ja etwas Gutes für sie – was auch immer das sei. Aber gewiss habe er seine Werte und seine positive Intention, die er dabei verfolge. So schlug ihr vor, sich dann eben auf das Schnarchen zu konzentrieren, und sich dann richtig darauf zu konzentrieren und sich ordentlich darüber zu ärgern, viel mehr als vorher. Sie könnte sich so lange darauf konzentrieren und darüber ärgern, bis sie davon müde werde und davon einschlafe oder bis sie die Lust verliere und etwas anderes vorzeiehe. Überraschenderweise fand sie das richtig gut. Sie wollte dann noch einmal hypnotisiert werden, und ich sagte etwa das Folgende zu ihr: „Es kann sein, dass es Sie weiter stört, dass Ihr Mann schnarcht. Aber das braucht Sie nicht zu stören. Es braucht Sie nicht zu stören, wenn es Sie stört. Ein Teil von Ihnen kann sich darüber ärgern und daran stören, während die anderen Teile von Ihnen sich nicht daran zu stören brauchen, dass es diesen Teil stört. Dieser Teil hat seine guten Gründe dafür, und die anderen Teile können sich mit etwas anderem befassen und schon einmal schlafen gehen. Dieser Teil kann wach bleiben, um sich daran zu stören, oder er kann sich entscheiden, dass es die Hauptsache ist, sich daran zu stören, und er das auch im Schlaf tun kann. Vielleicht entdeckt er auch, dass er auf einer Skala des Ärgerns nur einen bestimmten Grad des Genervtseins braucht oder dass es verschiedene Arten gibt, sich an etwas zu stören, und er eine bestimmte Art vorzieht. Vielleicht entdeckt er, dass er seine gute Intention auf eine andere Art als vorher verwirklichen kann, und egal, auf welche Art er sich an dem Schnarchen stören möchte und wieviel er davon braucht, braucht es die anderen Teile der Persönlichkeit nicht zu stören. Sie können sich mit etwas anderem befassen und gerne auch schlafen.“

Das Gesicht der Klientin veränderte sich vollkommen. Sie sah sehr glücklich aus. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

Good Vibrations

Gerade bin ich mit den Korrekturen zum „Handbuch der therapeutischen Utilisation“ beschäftigt, das im April bei Klett-Cotta erscheint. Das Buch enthältFallbeispiele und Erklärungen dazu, wie man in der Therapie gerade die Dinge für die Ziele der Klienten nutzen kann, die auf den ersten Blick unnütz, lästig oder geradezu schädlich erscheinen. Dazu gehören natürlich die Erfahrungen, deretwegen die Leute in Therapie gekommen sind, zum anderen aber auch ganz alltägliche Störungen. Ich gebe einmal ein Beispiel.

Eine Frau wollte gerne hypnotisiert werden, weil sie sich nur schwer konzentrieren könne, Gedächtnisprobleme habe und sich meistens verwirrt fühle. Die ersten Therapiestunden ergaben, dass es genügend familiäre Probleme gab, um diese Schwierigkeiten zu erklären. Die Frau wünschte sich jedoch eine Therapie, die die ihre Familiensituation unberücksichtigt lassen sollte. Ich erklärte ihr, ich hielte zwar grundsätzlich ein anderes Vorgehen für angezeigt, ihrem ausdrücklichen Wunsch entsprechend werde ich aber mit ihr daran arbeiten, ihre mentalen Prozesse so weit als möglich zu optimieren, ohne ihre Familienbeziehungen und die sich daraus ergebenden Probleme zu bearbeiten.
Nach einigen Sätzen der Hypnoseinduktion begann, für mich unvorhergesehen, im Keller ein Handwerker mit einer Schlagbohrmaschine eine Wand zu durchbohren. Minutenlang vibrierte das Haus, und der Lärm war so gewaltig, dass ich sehr laut reden musste, um für die Klientin hörbar zu bleiben. Ich sagte:
„Manchmal geschieht es, dass etwas Unvorgesehenes unser Leben erschüttert, und wir merken erst einen Augenblick später, dass es etwas Gutes ist, was mit uns geschieht. Es ist, als ob in uns etwas zurecht gerüttelt wird, so dass in unserem Körper und Geist etwas vibriert und unsere geistigen Fähigkeiten aktiviert. In uns kommt etwas zum Schwingen und eine gute Resonanz bringt in uns alle Gedanken an den richtigen Platz, alle Erinnerungen und all unser Wissen werden dadurch aufgeräumt, werden neu geordnet und dadurch neu auffindbar.“
Einige Tage später sagte eine andere Frau, die mit dieser Klientin befreundet war, zu mir: „Meine Freundin hat gesagt, Sie hatten einen Handwerker im Haus, der mit einer Maschine gearbeitet hat, und das sei so wohltuend gewesen.“

(Aus: Stefan Hammel, Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung. Stuttgart, Klett-Cotta 2011)

Der Grashalm in der Wüste

Gestern war ich in der Kinderpsychiatrie und habe den Kindern eine Geschichte erzählt. Wir vergessen so oft, dass Menschen, die sich selbst und anderen Mühe bereiten, nicht nur aus ihren Problemen bestehen, sondern auch aus dem, was heil ist.Und wenn wir das Gesunde, Kraftvolle, Glückspendende im Leben der Kinder oder auch von uns selber pflegen, könnte es sein, dass wir mehr erreichen, als wenn wir immer mehr Zeit auf die Behandlung des Störenden verwenden. Natürlich muss man zuweilen bei dem, was stört, anknüpfen. Wenn man allerdings bei der Behandlung der Störung hängen bleibt, ist man wahrscheinlich schon selbst ein Teil der Störung geworden. Denn wer sagt uns, dass die Reaktionen der Menschen auf das Problem nicht zu dem Problem maßgeblich beitragen? Vielleicht kommen wir schneller zum Ziel, wenn wir das Unauffällige, Gesunde, Normale in den Vordergrund unserer Betrachtung stellen. Ich habe jedenfalls den Kindern die folgende Geschichte erzählt.

Ein Mann durchquerte eine Wüste. Rings um ihn her gab es nur Sand, Steine und Felsen, den leuchtend blauen Himmel und über ihm die glühend heiße Sonne. Auf der Hälfte seines Weges geschah es, dass er Rast machen wollte und sich nach einem geeigneten Platz umsah. Weiterlesen

Recycling II

Das erinnert mich an eine Beobachtung in verschiedenen Städten in Kambodscha. Ich denke zum Beispiel an Phnom Penh.

Wir gehen durch eine Einkaufsstraße.
„Wick-wack, wick-wack.“
Eine Hupe, die wie eine Gummi-Badeente klingt, kündigt eine Müllsammlerin an, mit ihrem Handwagen durch die Straße zieht. Manche dieser Sammlerinnen sind auf Glas- und Plasikflaschen spezialisiert, manche nehmen jede Art von Müll, einige suchen Reis- und Baustoffsäcke oder Dosen.
Glasflaschen werden an Moped-Tankstellen verkauft, die am Straßenrand Benzin verkaufen, Plastikflaschen können als Wasserbehälter dienen oder verfeuert werden, Baustoffsäcke können mit Beton gefüllt als formbare Mauersteine Verwendung finden und Nahrungsmittelsäcke mit schönen Motiven können in Taschen für Touristen verwandelt werden. Aus Blechdosen kann man Spielzeug machen, das ebenfalls von Touristen gekauft wird.
Phnom Penh hat keine geregelte Müllabfuhr. Die Straßen sind weitgehend abfallfrei.

Das Monster vom Kartoffelkeller

Wie vielleicht schon zu bemerken war, bin ich aus dem Urlaub zurückgekehrt. Die Zeit in Kambodscha war eindrucksvoll und wäre es wert, in vielen Geschichten erzählt zu werden. In der Zeit habe ich aber auch eine Mail bekommen von einer Blog-Leserin mit einer Geschichte, die gut in diesen Blog passt und die ich mit Erlaubnis der Autorin veröffentlichen darf. Die Geschichte geht so…

Als ich klein war geschah etwas höchst Seltsames. Meine Mama schickte mich in den Keller zum Kartoffeln holen. Das war schon häufiger vorgekommen, doch an diesem einen Tag geschah, wie schon erwähnt, etwas höchst Seltsames -etwas monströses! Schon als ich die Kellertür öffnete überkam mich ein seltsam ängstliches Gefühl, ich knipste schnell das Licht an und wollte die Kartoffeln in die Schüssel lesen, da hörte ich ein Geräusch. Es war ein kratziges, schnaufiges Scharren. Die Schüssel fiel scheppernd zu Boden, als ich aufsprang und aus dem Keller rannte. Oben erzählte ich meiner Mama von dem Geräusch. Sie redete beruhigend auf mich ein und kam mit mir in den Keller, doch dort war alles still. So ging es einige Tage. Immer wenn ich alleine war, vernahm ich das Geräusch, war jemand bei mir, dann war es still. Da nicht immer jemand mit mir in den Keller gehen konnte riet mir meine Mama fortan zu singen, denn der Gesang eines Mädchens könne unheimliche Geräusche vertreiben. Ich versuchte es, aber das Scharren blieb.
Wenige Tage nachdem ich es zum ersten Mal gehört hatte, entdeckte ich die Ursache des Scharrens. In der hintersten Kellerecke, dort wo kein Licht hinfiel, saß ein schauriges Monster mit langen wilden Haaren, drei rot glimmenden Augen, einem gierigen Mund voller kleiner, spitzer, blutgieriger Zähne. Seine Arme waren lang und behaart und an seinen schleimigen Händen waren acht Finger die sich gierig nach mir reckten.
Ich war starr vor Schreck und als die Starre sich löste, rannte ich panisch nach oben, um Mama zu holen. Wie zu erwarten war das Monster jedoch verschwunden, als meine Mama mit mir in den Keller ging.

So wurde es für mich immer schrecklicher, die Kellertreppe hinab zu steigen, denn ich wusste genau worauf das Monster wartete. Auf einen günstigen Moment, um mich zu packen, an sich zu reißen und seine widerlichen Zähne in mein Fleisch zu rammen. Woher ich das wusste, kann ich allerdings nicht sagen.
Die Jahre vergingen. Ich zog in meine erste eigene Wohnung – und das Monster zog dort in den Keller. Auch bei meinen weiteren Umzügen, gelang es dem Unhold stets mir zu folgen und die dunkelste Ecke des Kellers für sich zu beanspruchen.

Doch heute entschloss ich, mich dem Monster zu stellen.

Mit einer für Monster höchst gefährlichen Waffe bezwang ich die Kellertreppe. Ich hörte das kratzige, schnaubige Scharren, sah die schleimigen Hände, die sich nach mir ausstreckten. Todes mutig bewegte ich mich langsam, Schritt für Schritt auf die Ecke zu. Dann stand ich dem Monster gegenüber, so nah wie nie zuvor. Ich konnte seinen nach Verwesung stinkenden Atem riechen. Schon wollte ich mich umdrehen und weg rennen, da spürte ich in meiner Hand die Schwere und Kühle der Monsterwaffe. Ich nahm allen Mut und alle Kraft zusammen hob sie an, richtete sie auf das Monster und drückte ab…..

Das Licht der Taschenlampe durchflutete die Ecke. Sofort begann das Monster vor meinen Augen zu verschwimmen und als sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, war das Monster vollständig verschwunden. Da spürte ich das unwiderstehliche Bedürfnis zu lachen in mir. Erst leise dann immer lauter bahnte sich das Gelächter seinen weg aus meinem Innersten ins Freie und so wurden auch die letzten Reste und Spuren des Monsters aus unserem Keller vertrieben.

So habe ich nach vielen Jahren den Sieg über mein persönliches Monster davongetragen.

(Tamara Peter)

Der Tanz der Einhörner

Ich hatte ein sechsjähriges Mädchen in Therapie, das öfter angemerkt hat: „Ich will tot sein.“ Das sagte sie, wenn sie enttäuscht war, weil sie beim Spielen verloren hatte oder weil sie ein Geschenk nicht bekam. Aber man merkte auch, dass sie dabei wirklich sehr, sehr unglücklich war. Todunglücklich, würde das Mädchen vielleicht sagen. Aufs Tot-sein befragt, hat sie erklärt, dass es im Himmel Engel und Einhörner gibt, und die Einhörner sind Pferde, die in den Himmel gekommen sind, und überhaupt ist es im Himmel viel schöner.

Ich habe das Mädchen gefragt, ob ich ihm eine Geschichte erzählen darf. Die Geschichte ging so:

In einem Land, das sich Kamark nennt, gibt es einen Wald, und darin lebt eine Herde Wildpferde. Und unter ihnen lebte ein junges Pferd, das hatte einen großen Wunsch: „Ich möchte gerne die Einhörner sehen.“ Die großen Pferde haben zu dem kleinen Pferd gesagt: Das geht nicht. Die Einhörner leben im Himmel, und da können wir jetzt noch nicht hin, erst später. Das kleine Pferd hat sich damit aber nicht zufrieden gegeben, und als ihm keines von den großen Pferden eine befriedigende Lösung sagen konnte, wie es die Einhörner treffen könnte, da ist es zur Eule gegangen. Die Eule weiß nämlich fast alles. Das Pferd hat dreimal mit dem Huf an dem großen Baum gescharrt, in dem die Eule hoch oben in einer Höhle gewohnt hat. Das ist das Zeichen zwischen den Pferden und der Eule, wenn die Pferde etwas wissen wollen. Die Eule hat rausgeguckt und hat gefragt: „Was ist los, kleines Pferd?“ „Ich will die Einhörner sehen“, hat das Pferd gesagt. „Die Einhörner wohnen im Himmel, da brauchst du ein Flugzeug“, hat die Eule gesagt. „Wie bekomme ich ein Flugzeug?“ Das kleine Pferd ließ nicht locker. Die Eule dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich habe eine Idee. Komm mit mir!“ Die Eule flog los, und das kleine Pferd galoppierte hinter ihr her. „Das wollte ich sowieso schon lange mal machen!“ rief die Eule. Sie flogen quer durch den Wald und aus dem Wald heraus und kamen schließlich zu einem Zoo. Dort flog die Eule hinein. Sie flog zum Zoowärterhaus, guckte dort hinein und wartete, bis der Wärter in eine andere Richtung schaute. Dann flog sie lautlos hinein, nahm in ihren Schnabel einen Schlüssel und flog genauso still und leise wieder heraus, hinüber zum Affenhaus. Sie öffnete den Käfig und ließ den Affen heraus. Setz dich auf das Pferd und halte dich an der Mähne fest!“, rief sie. Der Affe tat, wie ihm geheißen wurde, die Eule flog voraus und das kleine Pferd galoppierte mit dem Affen hinterher. „Wie kann ich euch das nur danken?“ fragte der Affe, als sie schließlich in dem Wald, wo das kleine Pferd wohnte, halt machten. „Bau für das kleine Pferd ein Flugzeug“, sagte die Eule, und bald machte sich der Affe ans Werk. Weiterlesen