Die Ahnungslosen

„Ich habe oft Jugendliche vor mir sitzen, die auf jede Frage, die ich ihnen stelle, antworten: ‚Keine Ahnung‘. Was kann man mit denen machen?“ fragte mich eine Beraterin.

„Erzähle ihnen vom Stamm der Ahnungslosen“, sagte ich. „Sie leben im Dschungel der Unwissenheit und haben echt keine Ahnung. Als sie sich Hütten bauen wollten, haben sie am Anfang Gras genommen. Das hat aber nicht geklappt, dann haben sie Blätter genommen. Danach haben sie es mit Lianen probiert, das war auch nicht so gut. Rindenstücke waren zwar besser, aber auch nicht überzeugend. Sie haben alles mögliche versucht, es war alles nichts. Die Holzhütten haben dann schließlich gehalten. Dann wollten sie sich Kleider machen. Und sie hatten echt keine Ahnung. Sie haben mit Schlamm experimentiert, den sie auf der Haut haben trocknen lassen, und danach mit Büffelmist, den sie zu breiten Fladen ausgerollt haben und nach dem Trocknen um die Hüften gelegt haben. Das war zwar besser, hat aber bei Regen nicht mehr funktioniert. Kleider aus Dornengestrüpp waren auch nicht das Richtige. Irgendwann haben sie dann Flechtröcke und Lederstücke verwendet, von da an ging es besser. Die waren so blöd, die waren echt ahnungslos. Einmal wollten sie ein Boot bauen. Da haben sie Wasserpflanzen verwendet. Auch die Boote aus Stein waren nicht gut. Die Ahnungslosen haben alles Mögliche probiert. Sie waren so ahnungslos, dass sie noch nicht mal ans Aufgeben gedacht haben. Das ist schon eine Leistung. So haben sie halt immer weitergemacht. Irgendwann hat mal einer einen Baum ausgehöhlt. Das hat funktioniert, das haben sie beibehalten. Dann wollten sie Fischen fahren. Erst wollten sie die Fische vergiften, aber das war nicht so gut… und so weiter…

Erzähle den Jugendlichen so lange von den Ahnungslosen, bis sie es überdrüssig werden und von ‚keine Ahnung‘ nichts mehr wissen wollen. Erzähle ihnen so lange, wie die Ahnungslosen ‚keine Ahnung‘ hatten, bis die Jugendlichen zwischen Amüsiertheit und zunehmend genervter Ungeduld schwanken. Dann erzähl ihnen eine Lösung und ziehe die nächste Etappe wieder in die Länge. Nimm dir Zeit. Lass die Ahnungslosen so doof sein, wie es nur geht, und noch viel unfähiger, als die Jugendlichen sich fühlen. Lass sie so bescheuert sein, dass die Jugendlichen nur über sie lächeln können. Die Ahnungslosen sind maximal blöd. Das Gute ist nur, dass sie immer weiter machen und immer Erfolg haben. Wer den Stamm der Ahnungslosen kennt, für den ist, ‚keine Ahnung‘ zu haben, nicht mehr cool und auch nicht mehr egal. Aber es ist auch keine Tragödie. Man kann etwas daraus machen.“

Armdrücken

Manchmal, wenn ich ein Glas mit einem sehr festsitzenden Schraubverschluss zu öffnen habe, stelle ich mir vor, ich sei eine Maschine mit einem speziellen Greifarm, der dafür konstruiert ist, unwiderstehlich alle Gläser zu öffnen. Auf diese Art habe ich die maximale Kraft und den besten Halt am Deckel, gleichzeitig bin ich weitgehend unempfindlich gegen das Druckgefühl und etwaige Schmerzempfindungen. Man kann es natürlich auch übertreiben. Ich erinnere mich an eine Szene aus der Zeit, als ich noch an einer Schule unterrichtete.

„Hol‘ mal den Timo!“ riefen alle Schüler. Bis dahin war das Armdrücken mit meinen Sechstklässlern ein Vergnügen gewesen. Doch Timo, der aus der Parallelklasse herbeigerufen wurde, war von ganz anderer Statur als die übrigen Schüler seines Jahrgangs. Mit freundlichen Augen schaute er mich durch seine dicke Brille an, setzte sich mir gegenüber und hielt mir seine Pranke entgegen. Die Vorstellung, als Lehrer von einem Sechstklässler niedergerungen zu werden, war mir äußerst unangenehm.  Ich fragte mich: War dieser Kampf überhaupt zu gewinnen? Ich wollte nicht unterliegen. Doch hier war sein Arm, es gab kein Entrinnen. Was tun? Ich malte mir aus, mein Arm sei ein großer Stahlwinkel, verschweißt und verschraubt wie die gewaltige Konstruktion einer Bahnhofshalle, deren Dach von großen Stahlträgern zusammen gehalten wird. Ich sah nicht mehr den Arm, ich sah nur noch den Träger, der starr unter seinem Dach die Stellung hielt. Lange, lange Zeit drückte Timo seine Hand gegen den Stahlträger. Als sein Arm schließlich zitterte, ließ ich den Träger ganz langsam kippen und unter der Last eines schweren Gewichtes umstürzen. Das Bahnhofsdach begrub Timos Arm unter sich. Ich hatte gewonnen.

Und während der nächsten drei Wochen hatte ich Zeit, meine Muskelfaserrisse heilen zu lassen.

Aus: Stefan Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens, Klett-Cotta 2009

Hypnotherapie bei Brustkrebs?

Von einem Bekannten habe ich letzte Woche die folgende E-mail erhalten. Seine Frau (etwa 35 Jahre alt) war zu mir in Therapie gekommen, nachdem ein aggressives Karzinom in der Brust gefunden worden war, das bereits im Bereich der Brust gestreut hatte. Ihr Anliegen war, dass ich mit hypnotherapeutischen Mitteln die medizinische Behandlung unterstützen sollte. Sie hatten sich, dem Rat der behandelnden Ärzte folgend, für eine Brustamputation entschieden, wollten jedoch, gegen deren Meinung, keine Chemotherapie machen und nicht an der Erprobung eines neuen Medikamentes teilnehmen. Die Namen sind, wie üblich, verändert.

Hallo Stefan,

vielen herzlichen Dank für Deine Unterstützung!
Anke ist noch im Krankenhaus und kann den Termin morgen nicht wahrnehmen.
Nach der OP war sie sichtlich erleichtert. Sie sagte mir, dass Abendbrot hätte ihr so gut geschmeckt, wie die letzten 3 Wochen nicht mehr. Der Schnellbefund hat ergeben, dass die Wächtelymphknoten „heil“ sind. Das gibt uns ein ganzes Stück Beruhigung. Wir sind sicher, den richtigen Weg genommen zu haben.
Ich kann es kaum in Worte fassen. Die Prognosen sahen anders aus. Ich bin überzeugt, dass das Gebet und Deine Therapie Wunder bewirkt haben. Bei dem Endergebnis bin ich zuversichtlich, dass dies ebenfalls positiv ausfällt.
Das muss ich noch loswerden: Nachdem ich die Geschichten in Deinem Buch verschlungen habe (die mit der Brille als Krücke) hatte ich immer mehr den Anschein, dass auf meiner Brille ein weißer Schleier liegt, obwohl ich sie geputzt habe.
Seit Sonntag hatte ich diese nicht mehr auf der Nase. Ich fühle mich richtig gut damit.

Liebe Grüße

Peter

Ich möchte ein paar Gedanken zum Verfahren anschließen: In der Therapie habe ich die Frau unter anderem gebeten, sie möge…

  • ihr Immunsystem dafür loben, dass es schon lebenslang fast alle Krebszellen aussortiert und abgesondert hat
  • die Krebszellen auffassen als solche, die als Freunde des Körpers in bester Absicht etwas gewaltig übertreiben
  • allen Zellen ausrichten, sie sollen wachsen, bis sie an eine andere Zelle stoßen und dann aufhören
  • den Krebszellen erlauben, sich zurückzubilden und am Leben zu bleiben, oder
  • andernfalls dürfe der Körper sie beseitigen.
  • sich regulierende Bilder vorstellen, die ihre Körperfunktionen neu aufeinander abstimmen, zum Beispiel die Wirkung von Ventilen.

Das hypnotherapeutische Verfahren war sehr ähnlich demjenigen bei einem anderen Patienten, von dem ich (auf dessen ausdrückliche Aufforderung hin) neulich berichtet habe.

Vorgestern hat Peter angerufen und mir mitgeteilt, dass die Laborbefunde vorliegen. Der entfernte Tumor werde nicht mehr als G3 sondern als G2 bewertet. Das heißt, dass sich der Tumor in der Laborauswertung als weniger verwachsen und verzweigt darstellt als in den Voruntersuchungen. Er wird daher, grob gesprochen, als weniger aggressiv angesehen. G1 steht für leichte, G 2 für mittlere, G3 für starke und G4 für extreme Verwachsungen.

Drei weitere Tricks, um gut einzuschlafen

Ich kannte eine Frau, die hatte Schlafstörungen, seit sie einmal unglücklich verliebt gewesen war. Seither war sie allein und wünschte sich einen Partner. Sie hatte sich sogar ein Doppelbett gekauft, damit alles für ihn bereit wäre, aber der Mann ihrer Träume kam nicht. „Auf welcher Seite liegen Sie?“ fragte ich. „Rechts“, sagte sie. „Also liegt der nicht vorhandene Mann links“, habe ich geantwortet. „Legen Sie sich zukünftig in die Mitte des Bettes, breiten Sie die Arme aus und sagen Sie: ‚ Wie herrlich: Dieser ganze Platz gehört mir‘.“ Sie hat das getan und konnte gut schlafen.

Ich selbst habe eine Hängematte im Wohnzimmer. Wenn ich im Bett im Schlafzimmer nicht schlafen kann, lege ich mich dorthin, und das geht dann sehr gut. „Fehlt nur noch das Fruchtwasser“, sagte eine Freundin, nachdem sie sich wohlig darin eingehüllt hatte.

Meine Nichte Luise macht es anders. Sie sagt: „Wenn ich schlecht einschlafen kann, nehme ich mir vor, auf keinen Fall einzuschlafen. Ich stelle mir vor, ich muss unbedingt wachbleiben. Dann schlafe ich ein. Wenn ich im Bett liege und unbedingt wachbleiben will, mache ich es umgekehrt: Ich versuche, möglichst schnell einzuschlafen.“

Bespitzelung?

In diesen Tagen habe ich die folgende E-mail erhalten.

Sehr geehrter Herr Stefan Hammel,

ich habe Sie neulich im Fernsehen gesehen und war sehr beeindruckt von Ihrer Arbeitsweise im therapeutischem Bereich. Da stellt sich mir zunächst erst einmal eine grundlegende Frage. Kann man mit Ihrem Konzept des therapeutischen Vorlesens wirklich alle “ Probleme “ lösen?
Ich habe schon, als Privatperson einiges über therapeutisches Arbeiten bzw. eben solche Konzepte gelesen (…) und an mir selbst erlebt, wie heilsam ( … ) das ein oder andere Buch sein kann.
Aber das Beispiel von welchem ich Ihnen berichten will, kennt sicher  bzw. leider keine Lösung, die sich mit  therapeutischen Büchern auflösen lässt. Und zwar geht es darum, dass ich schon seit einigen Jahren bespitzelt werde und zwar “ 24 Stunden “ am Tag, auch jetzt wo ich gerade diese Mail an Sie schreibe. Ich habe mich auch schon an die Polizei gewand, an den weißen Ring und an andere mehr, aber ohne ersichtliche Beweise, glaubt mir das sowie so kaum jemand ( selbst für mich ist und bleibt es abstrakt, aber wirklich).!!!? Und aus dieser Perspektive, ist es wohl auch nicht zu lösen. (Ich habe der Polizei nur abschließend eins versichert, dass ich es so transparent wie irgend möglich machen werde und davon lasse ich erst ab, wenn sich ein Lösungsansatz ergibt (die die das Tag ein Tag aus und auch in der Nacht für notwendig halten mir (und bestimmt auch anderen in diesem Lande, sind mir in den meisten Fällen wohl bekannt, auch persönlich, Le Bon beschreibt sie in seinem Buch; Massenpsychologie als psychisch kriminelle (ich finde das als sehr milde ausgedrückt ) ) so .

Mit freundlichen Grüßen 🙂

S.K.

Ich habe folgendermaßen geantwortet:

Sehr geehrte Frau S.K.,

wenn Sie bespitzelt werden, kann natürlich kein Psychotherapeut die Bespitzelung unterbinden. Möglich ist es, den Umgang damit zu verändern, also beispielsweise mit Psychotherapie dafür zu sorgen, dass Ihnen die Bespitzelung fast so gleichgültig wird, als fände sie gar nicht statt.
Denn was haben Sie bisher davon, dass Sie sich über die Spitzel aufregen oder beunruhigen – wahrscheinlich weitaus mehr Unannehmlichkeiten, als wenn Sie zwar von ihnen wissen, aber sich nicht mehr für sie interessieren. Zumal Sie den Spitzeln, die wohl daran interessiert sein werden, Sie zu verunsichern, durch größtmögliche Gleichgültigkeit am ehesten „eins auswischen“ können.
Ich schlage Ihnen vor, dass Sie einen Systemischen Therapeuten/in oder Hypnotherapeuten/in (z.B. Verfahren nach Milton Erickson) aufsuchen und ihn / sie darum bitten, Ihnen nicht – wie sicher manche Leute – die Tatsache der Bespitzelung ausreden zu wollen, sondern nur mit Ihnen daran zu arbeiten, dass Ihnen die Spitzel mehr und mehr egal werden. (Gerne können Sie meine Mail dabei mitnehmen, falls der Therapeut an dem Vorschlag interessiert ist.)
Wenn Sie tatsächlich bespitzelt werden, wird das die Spitzel zumindest frustrieren und Ihnen ein leichteres Leben schenken. Sie können denen durch Nicht-beeindruckt sein am ehesten eine Nase drehen.
Und selbst falls diejenigen Leute recht haben sollten, die behaupten, es gäbe keine Bespitzelung, wird das Problem dabei reduziert.

Viele Grüße, Stefan Hammel

Flug- und Brückenphobie

Diese Woche habe ich eine Mail erhalten von einem Klienten, der wegen einer generalisierten Angststörung, wegen einer Brücken- und Flugphobie und der Angst, in fremder Umgebung allein unterwegs zu sein, bei mir in Behandlung war. Wir trafen uns innerhalb einer Woche gleich dreimal für eine Stunde, da er in der folgenden Woche eine weite Autofahrt mit vielen Brücken und im Folgemonat eine Flugreise vor sich hatte. Etwa anderthalb Wochen nach dem letzten Treffen habe ich nun diese Zeilen erhalten, die ich mit seiner Erlaubnis hier weitergebe. Vielleicht dienen Sie ja jemand anderem zur Ermutigung, um an neue Lösungsmöglichkeiten zu glauben und sich auf den Weg zu machen…

Hallo Hr. Hammel,

wie besprochen möchte ich Ihnen gerne ein Feedback geben was meine Ängste betrifft.
Es war auf jeden Fall sehr gut und ich glaube auch wichtig, dass wir uns an dem Samstag vor Pfingsten nochmal getroffen haben. Zumindest kann ich berichten das meine Motorradfahrt nach Koblenz, inklusive Autobahn (ca. 60km und eine halbe Stunde) eigentlich sehr positiv verlaufen ist.
Ich hatte nur 1-2 kurze Momente der Angst, aber weniger panische Angst, sondern eher ein kürzeres, weniger starkes Angstgefühl beim Überfahren einer relativ langen Brücke.
Nach ca. 20 Minuten nur Autobahn und nur Geradeaus überkam mich ein beklemmendes Gefühl. ich hatte „es“ aber jederzeit im Griff und konnte den restlichen Tag genießen.

Insgesamt geht es mir seit den Therapiestunden sehr viel besser, ich habe kaum noch Angst (70-80% weniger als zuvor) und kann mein Leben viel leicher und besser leben.
Meine Phantasie kann ich nun auch endlich besser „steuern“. Nicht sie bestimmt meinen „Film“, sondern ich.

Gelegentlich empfinde ich noch einiges an Negativgedanken, die ich im Moment nicht zu beschreiben weiß. Wahrscheinlich einfach „Unwohlsein“, vor allem morgens nach dem Aufwachen. Was könnte das sein? Vielleicht träume ich schlecht und erinnere mich nicht dran. Eventuell denke ich daran, dass das Leben endlich ist?! – Muss ich mal weiter analysieren.

Vor meinem bevorstehenden Flug habe ich kaum Angst, aber ich würde lügen, wenn ich mich bedingungslos darauf freuen würde. Zumindest hat die Nachricht über das Flugzeug der Air France, das bei Brasilien abgestürzt ist, kaum weitere Angst geschürt.

Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken für Ihre Hilfe, für Ihre Denkanstösse, für eine aussergewöhnliche Art der Therapie, die ich jedem bedenkenlos weiterempfehlen werde und freue mich über eine Antwort.

Viele Grüße,

K. M.

Adlerküken

Das hier ist eine Geschichte, die mein Großvater mir erzählt hat, als ich ein Kind war. Ich erzähle sie zum Beispiel Kindern aus Patchwork- und Pflegefamilien und Kindern getrennterziehender Eltern.

Wo genau diese Geschichte sich ereignet hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es muss in einem Dorf auf dem Balkan gewesen sein, im ehemaligen Jugoslawien. Ganz genau weiß ich noch dies: Das Adlerküken war aus seinem Nest gefallen. Es war quicklebendig. Als die Familie es fand, schlug es mit den Flügeln und sperrte den Schnabel weit auf. Verletzt war es anscheinend nicht, außer an einer Stelle, wo es ein wenig blutete. Die Eltern der Familie zögerten eine Zeitlang. Sie sahen sich um. Da war weit und breit keine Adlermutter zu sehen und kein Adlervater. Allein auf sich gestellt, wäre das Adlerjunge gestorben. Was sollten sie tun? Die Kinder baten und drängten ihre Eltern, und so nahmen sie es schließlich mit. Zuhause setzten sie es erst einmal in einen Käfig, in dem früher einmal ein Paar Nymphensittiche gewohnt hatten. Weiterlesen

Die kleine Torte

Gestern habe ich in der Klinik eine Frau getroffen, die zeigte mir nach der Begrüßung einen Butterkeks auf ihrem Nachttisch. „Das ist meine Torte. Ich habe eine Torte bestellt und habe das hier bekommen. Jetzt habe ich beschlossen: Das ist meine Torte.“ Ich war von diesen Sätzen merkwürdig berührt. Mir gefiel die Torte der Frau. Vor meinem inneren Auge sah ich eine kleine Kerze darauf brennen. Erst zuhause fiel mir ein, was mir die Frau danach an erlittenem Unrecht berichtet hatte, und ich verstand, dass sie nicht über das Gebäck, sondern über ihr Leben gesprochen hatte.

Die Wüste

Einmal die Wüste zu erleben, die riesige weite Sahara, das war sein Traum. Jetzt hatte er sich diesen Traum erfüllt. Mit Flugzeug, Bus und Jeep war er dorthin gekommen, in irgendein bedeutungsloses Dorf, das er sich auf der Landkarte ausgesucht hatte, irgendwo am Rande der Sahara. Und er wusste: Dahinter kommt nichts mehr. Keine Straße, keine Siedlung, keine Quelle. Nur Sand, Steine, Felsen. Was ihn eigentlich dahin gezogen hatte, wusste er nicht. Eine Sehnsucht, aus der Tiefe seiner Seele. Vielleicht war es das, vielleicht war er zu lange von zu vielen Menschen umgeben gewesen, zuviel Unruhe, zu viele Stimmen, die alle etwas von ihm wollten. Auf der Arbeit, in der Nachbarschaft, die Familie zuhause, alle zerrten sie an einem: Könnten Sie nicht… würdest du bitte. Und nun: Stille, nichts und niemand um ihn herum. Weiterlesen

Perspektive im Rückblick

Ein Arzt an meinem Krankenhaus sagte zu mir vor einiger Zeit: „Wenn einige von uns mit zwanzig wüssten, was sie mit vierzig erreicht haben werden…“ seine Schlussfolgerungen waren wenig lebensbejahend. Einige von uns ahnen sehr wohl, dass sie neben Begabung auch Glück und Gesundheit brauchen werden, wenn sie denn ihre Ziele erreichen wollen. Meine Schweizer Kollegin Irmgard Federer sagte: „Nicht mal seinem Feind wünscht man, dass alle seine Wünsche wahr werden“. Auch das ist nachdenkenswert: Sind unsere Ziele geeignet, um unsere Sehnsucht zu erfüllen? Was ist, wenn wir sie erreichen? Und was, wenn wir sie nicht erreichen? War dann unser Leben umsonst?  Am besten gefällt mir, was Sebastian Schwank unter der Überschrift „Perspektive im Rückblick“ dazu geschrieben hat:

Nach kurzem Überlegen sagte er zu mir: „Ich werde zurückblicken können und werde zwar nicht sagen können, dass ich das geschafft habe, was ich mir damals erträumt hatte, aber ich habe geschafft, das zu wollen, was ich jetzt erreicht habe. „Was wolltest du denn“, fragte ich neugierig. „Genau das!“