Perspektive im Rückblick

Ein Arzt an meinem Krankenhaus sagte zu mir vor einiger Zeit: „Wenn einige von uns mit zwanzig wüssten, was sie mit vierzig erreicht haben werden…“ seine Schlussfolgerungen waren wenig lebensbejahend. Einige von uns ahnen sehr wohl, dass sie neben Begabung auch Glück und Gesundheit brauchen werden, wenn sie denn ihre Ziele erreichen wollen. Meine Schweizer Kollegin Irmgard Federer sagte: „Nicht mal seinem Feind wünscht man, dass alle seine Wünsche wahr werden“. Auch das ist nachdenkenswert: Sind unsere Ziele geeignet, um unsere Sehnsucht zu erfüllen? Was ist, wenn wir sie erreichen? Und was, wenn wir sie nicht erreichen? War dann unser Leben umsonst?  Am besten gefällt mir, was Sebastian Schwank unter der Überschrift „Perspektive im Rückblick“ dazu geschrieben hat:

Nach kurzem Überlegen sagte er zu mir: „Ich werde zurückblicken können und werde zwar nicht sagen können, dass ich das geschafft habe, was ich mir damals erträumt hatte, aber ich habe geschafft, das zu wollen, was ich jetzt erreicht habe. „Was wolltest du denn“, fragte ich neugierig. „Genau das!“

Webtipp: Das Reich der Möglichkeiten

Ich könnte mir vorstellen, dass diejenigen, die den Film „Validation“ gemocht haben, auch das Video vom „Reich der Möglichkeiten“ schätzen werden. Das ist nun ein ganz anderer Film. Es handelt sich um eine Demonstration des Bostoner Philharmonie-Dirigenten und Cellisten Benjamin Zander, der seine lebensfreundliche Weltanschauung erklärt und sie demonstriert, indem er einen jungen Cellisten unterrichtet. Eine Hommage nicht nur an die Musik, sondern an das Leben und an die Liebe zu den Menschen und zu sich selbst…

Zu finden ist das Video im Blog des systemagazin, das mein geschätzter systemischer Kollege Tom Levold herausgibt.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Anschauen!

Antidepressivum

In der Klinik erzählte mir gestern eine ältere Frau, dass sie immerzu Schmerzen habe, dass sie mutterseelenallein sei und dass sie sterben wolle. Ihr Mann und ihr späterer Lebensgefährte seien verstorben. Sie habe keine Geschwister, keine Kinder und auch sonst niemanden, der sich für sie interessiere. Sie lebe in einem Altenheim und könne das Bett nicht verlassen. Sie sehe keinen Sinn in ihrem Leben mehr. Sie fragte mich, ob ich etwa noch einen Sinn darin sähe.
„Ihr Leben hat auf diese Art wirklich keinen Sinn mehr“, sagte ich. „Sie können ihm aber möglicherweise einen geben. Da draußen sind noch mehr Menschen, die so einsam und unglücklich sind wie Sie. Diese anderen Menschen haben das ebenso wenig verdient. Sie können sich Papier, Schere, Klebstoff, Blumenprospekte und Stifte geben lassen und können Geburtstagskarten basteln und verschicken für diese Leute, denen es genauso geht, wie Ihnen.“ „Wozu?“ war die Antwort. „Das bringt doch nichts. Mir hat noch nie jemand Blumen geschenkt.“ „Sie mögen Blumen gerne, ja?“ fragte ich, und wir unterhielten uns über Blumen. Wenigstens jetzt leuchteten ihre Augen.
Nach einer Weile verabschiedete ich mich. Ich ging zum Blumenladen und kam wieder mit einem Strauß von orangenroten Rosen in verschiedenen Farbtönen. „Das Kraut hier mit den roten Früchten ist Johanniskraut“, erklärte ich. „Das ist ja eigentlich ein Antidepressivum. Die Verkäuferin hat gemeint, vielleicht wirkt es auch, wenn man es anschaut. Wer kann das wissen?“ „Haben Sie mir diese Blumen gekauft?“, fragte die Frau. Ihre Augen leuchten immer mehr. „Sie haben jetzt einen Auftrag“, sage ich. „Zählen Sie die Rosen in diesem Strauß. Wenn Sie zurückkommen in Ihr Altenheim, dann schenken Sie so vielen Menschen eine Rose, wie Rosen in diesem Strauß sind.“ Die Frau wandte ein, sie wisse nicht, wer die Blumen für sie besorgen sollte. „Sie werden einen Weg finden“, sagte ich. „Sie können aber auch Folgendes tun: Wenn Sie sich an den Rosen satt gesehen haben – aber erst, wenn Sie sie lange genug gesehen haben – dann lösen Sie diesen Strauß auf und geben Sie jeder Krankenschwester, der Sie begegnen, eine Rose.“ „Das tue ich“, sagte die Frau und strahlte.

Auf nach Troja!

„Meine Ehe ist in einer tiefen Krise. Ich habe nicht das Geld, um eine Therapie zu machen. Was raten Sie mir?“ So fragte mich in diesen Tagen ein Mann am Telefon. Seine Stimme klang depressiv. Ich kannte das Paar von einer früheren Therapie. Er war Lehrer für Geschichte und andere Fächer. Seine Frau, eine gelernte Bürokauffrau, sorgte für den Haushalt und die Kinder. „Intensivieren oder reaktivieren Sie Ihre Freundschaften. Und sprechen Sie mit Ihren Eltern und Geschwistern.“ „Ich habe kaum Freunde. Die habe ich im Lauf der Jahre vernachlässigt. Und mit meiner Familie verstehe ich mich nicht.“ „Dann frischen Sie alte Bekanntschaften auf. Vielleicht Leute, die Sie jahrelang nicht gesprochen haben, vielleicht Leute in anderen Ländern oder in Ihrer früheren Heimat. Und aktivieren Sie alte Hobbies.“ „Sie werden es nicht glauben, sagte der Mann. Ich war früher Präsident des Karnevalsvereins. Aber das ist tief vergraben.“ „Dann gehen Sie auf Spurensuche. Gehen Sie graben! Heinrich Schliemann hat gegraben und Troja gefunden, und er hat dort einen Schatz gefunden, den er unter Gefahren geborgen hat. Es gibt ein Bild von seiner Frau, wie sie den Goldschmuck einer trojanischen Königin um den Hals trägt. Machen Sie sich auf die Suche.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile. „Auf nach Troja!“, sagte der Mann, als er das Gespräch beendete.

Patchwork

Annetta Hammel mit Crazy Quilt in Violett und Grün
Diese Woche hatte ich eine russische Klientin in Therapie. Sie war aus Sibirien hierhergezogen, hatte ihr Kind aus erster Ehe mitgebracht und einen Deutschen geheiratet, der bereits zwei Kinder, ebenfalls aus erster Ehe, hatte. Gemeinsam hatten sie ein weiteres Kind, und inzwischen war eines der Kinder ihres Mannes wieder bei seiner Mutter eingezogen. Die Frau hatte in Deutschland trotz jahrelanger Bemühungen keinen rechten Anschluss gefunden. Sie hatte keine Freunde und keinen Ort, der ihr Heimat bot. So hatte sie sich immer mehr zurückgezogen, war verzagt und depressiv geworden. „Wenn mein Mann nicht wäre, würde ich zurück nach Russland gehen. Aber er ist ein sehr guter Mensch. Er liebt mich, und ich verlasse ihn nicht.“ Wir besprachen ihre Situation und überlegten Möglichkeiten der Veränderung. Beim Verabschieden blieb sie an meinen Wandbehängen stehen. „Das sind Quiltdecken“, erklärte ich. „Meine Mutter ist Amerikanerin. Das ist eine amerikanische Tradition. Man sagt auch Patchwork dazu. Wissen Sie, was eine Patchworkfamilie ist?“ Die Frau schwieg und lächelte. „Das hier ist Patchwork. So schön können Flicken sein. Das ist Patchwork. So ist das Leben.“

Der Platz neben dir

Diese Woche habe ich eine neue Therapiemethode ausgedacht, die außerordentlich gut funktioniert hat. Nacheinander habe ich sie bei drei Klienten mit jeweils unterschiedlichen Problemen ausprobiert. Es war jedesmal erstaunlich….

Also, da war eine Klientin, nennen wir sie Frau Goldschmitt, die erzählte mir, wie schlecht und unfähig sie sich fühle und dass sie kein Selbstbewusstsein habe, und dass sie sich selbst dafür noch Vorwürfe mache. „Ich habe Sie aber auch anders kennen gelernt“, sagte ich zu ihr. „Ich habe den Eindruck, Sie haben einen faszinierenden Beruf erlernt und Sie füllen ihr kompetent aus. Sie haben eine Tochter, die Sie offenbar gut erzogen haben und die sehr liebevoll ist, und Sie scheinen Freunde zu haben, die viel von Ihnen halten. Da scheint es zwei Frau Goldschmitts zu geben: Eine die hier sitzt und nicht viel von sich hält, und die sich selber schlecht macht, und eine andere, die stelle ich mir neben Ihnen auf dem Sofa vor: Diese Frau Goldschmitt hat viel erreicht und wird sehr geschätzt, und sie weiß das auch.“ Und wir sprachen eine Weile über die eine und über die andere Frau Goldschmitt. Ich fragte, welche Körperhaltung die andere Frau Goldschmitt wohl habe, was ihr wichtig sei, und wie sie mit sich und mit anderen umgehe. Wir verglichen ihr Erleben und Verhalten mit dem der unsicheren Frau Goldschmitt, die da vor mir saß. Als sie mir genügend über beide erzählt hatte, sagte ich: „Dürfte ich Sie bitten, sich auf den Platz neben Ihnen zu setzen, auf den Platz der anderen Frau Goldschmitt?“ Meine Gesprächspartnerin war etwas verdutzt, aber sie tat es.

„Auf diesem Platz sind Sie ja die Frau Goldschmitt, die ihren Erfolg, ihre Freunde und den Wert ihres Lebens kennt“, fuhr ich fort. „Erzählen Sie mir noch etwas über Sie und die andere Frau Goldschmitt auf dem Platz neben Ihnen, die so unsicher ist.“ Es war verblüffend. Es schien, als ob ich mit einem anderen Menschen spräche. Vor mir saß eine starke Frau. „Bemerken Sie, wie sich Ihre Körperhaltung jetzt unterscheidet von derjenigen der unsicheren Frau Goldschmitt?“, fragte ich sie. „Merken Sie, dass Ihre Stimme ganz anders klingt? Haben Sie schon bemerkt, dass Sie jetzt ganz andere Worte gebrauchen?“ Und ich beendete die Stunde mit der starken Frau Goldschmitt.

„Wann immer Sie in Ihrem Alltag der unsicheren Frau Goldschmitt begegnen, schlage ich Ihnen vor, Plätze zu tauschen“, sagte ich zu ihr. „Sie machen das, indem Sie sich die Starke einen Schritt neben sich vorstellen, einen Schritt zur Seite treten und die Unsichere an dem vorherigen Platz lassen.“

Der König des Waldes

Die folgende Geschichte erzähle ich gerne Perfektionisten, Leuten mit Zwangsproblemen, mit einem starken Kontrollbedürfnis, Denkern und Grüblern. Auch für einige Menschen mit sexuellen Schwierigkeiten ist sie gut geeignet.

„Wir sind zu viele geworden“, sagten einst die Bäume des Waldes. „Wir brauchen einen, der über uns herrscht. Wir brauchen einen, der uns sagt, wo wir wachsen sollen und wie wir unsere Zweige ausbilden sollen. Wir brauchen einen, der uns sagt, wann wir im Frühjahr Knospen austreiben lassen und wann wir im Herbst das Laub bunt färben.“ Und sie wählten eine alte Eiche zu ihrem König. Obwohl nun Bäume recht langsam wachsen, hatte der König viel zu tun. Er musste jedem Baum sagen, wohin er welchen Ast wachsen lassen und wann welches Blatt entrollen sollte. Er musste entscheiden, wer wie viel Wasser aus dem Boden entziehen durfte, und – was noch schwieriger war – wer wie viele Nährstoffe zu sich nehmen durfte. Nach kürzester Zeit begann der ganze Wald unter Pilzen und Parasiten zu leiden, ein Teil trocknete ein und ein anderer litt an der Wurzelfäule. Die Bäume begannen aufeinander zu schimpfen und zu streiten. Der König beschimpfte sein Volk als ungehorsam, das Volk den König als unfähig und sie alle einander als Dummköpfe und gemeine Schurken.
An einem schönen Julitag – das Laub begann gerade zu fallen – dankte der König ab. Da waren alle Bäume froh. Sie feierten ein großes Fest. Und von Tag zu Tag wurde es besser mit ihnen.

Der Tanz der Dornen und der Messer

Eine Kollegin hat mir eine Anregung gegeben zu einer Geschichte für Menschen, die sich ritzen oder auf ähnliche Weisen selbst verletzen. Ich erzähle die Geschichte folgendermaßen.

Es gibt bei den Indianern die faszinierendsten Bräuche. Zum Beispiel: Bevor ein Mensch erwachsen wird, ist es nötig, bestimmte Rituale zu vollziehen. Die Ethnologen, die diese Völker erforschen, sprechen von Initiationsriten. Das sind nicht einfach bloß Mutproben, sondern es sind Bräuche, die die Tür öffnen in eine neue Stufe des Lebens. Im Leben der Menschen sind diese Bräuche wie eine Stufe, die sie überschreiten, um sich auf einer anderen, höheren Ebene wiederzufinden. Diese Riten sind eine eindrucksvolle Sache! Bei einem Stamm ist es so, dass die jungen Leute eine ganze Nacht lang tanzen. Dabei schlagen sich selbst mit langen, dornigen Ranken auf den Rücken. Sie ziehen fest an den Ranken, bis ihnen die ganze Haut in Fetzen von ihrem Rücken hängt und sie gemeinsam in ihrem Blut tanzen.

Nach diesem Tanz kommt ein zweiter Tanz, bei dem sie sich mit scharfen Messern Wunden in die Arme und Beine schneiden. Dann reiben sie sich gegenseitig ein: Erst mit dem Blut, das aus ihren Adern rinnt, danach mit Speichel, den sie einander auf die Wunden reiben, und zuletzt mit Salz.

Dann tanzen sie weiter, wilder noch als zuvor. Zuletzt sinken sie einander erschöpft in die Arme und schlafen, und schlafen, und schlafen. Im Traum sehen sie Bilder, die ihnen den Weg weisen in das Erwachsenenleben, das sich unterscheidet von dem Leben, das sie vorher geführt haben.

Sie gehen aus diesem Ritual gestärkt hervor. Noch mehrere Male werden sie besondere Initiationsriten zu bestehen haben, die sie in neue Lebensstufen führen. Aber das Ritual der Dornen und der Messer machen sie nur einmal. Eingeführt in die Welt der Erwachsenen, lassen sie von da an die vorige Zeit hinter sich. Sie gehören nun zu einem neuen Alter, das neuen Regeln folgt.

Ausbrüche

Ich bin es gewohnt, bei allem, was mir widerfährt und nicht gefällt, zu fragen: „Wofür kann ich das denn immerhin noch nutzen?“ Nun hatte ich vor einiger Zeit eine Magen-Darmgrippe. Ich wachte morgens auf und wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, und ich würde mich übergeben. Mehrmals wahrscheinlich, vielleicht viele Male. Nun also: Wofür kann ich das noch nutzen? Ich widmete jeden Gang zum Bad einer Erfahrung, einer Zeit, einer Person, die mich verletzt hatte. Es waren kraftvolle, befreiende Ausbrüche, die mir in ausgezeichneter Erinnerung geblieben sind.

Nichts

Gestern sprach mich ein Bekannter in einer E-Mail auf die logische Wirklichkeit oder Unwirklichkeit von „Nichts“ an. So habe ich mir meine Gedanken über „Nichts gemacht. Einige davon möchte ich mit euch teilen.

In der systemischen Therapie fragen die Therapeuten öfter: „Was tun Sie, wenn Sie ’nichts‘ tun?“ Und sie bestehen darauf, zu erfahren: „Was sehen, hören, fühlen, denken Sie dann? Wie würde ein anderer Sie beschreiben, der Sie erlebt in einer Phase, in der sie sagen würden, dass Sie ’nichts‘ tun?“ Ermittelt wird also, was jemand stattdessen tut, wenn er „nichts“ tut. Es handelt sich also um ein ähnliches Phänomen wie das von Paul Watzlawick beschriebene: „Man kann nicht nicht kommunízieren“.

Eine Sicht ist, dass „Nichts“ ein Konstrukt ist, das übersieht, dass die Abwesenheit einer Sache oder Tat immer die Anwesenheit einer anderen impliziert. Wenn es gelingt, die Sache oder Tat zu beschreiben, die dann stattdessen da ist, ist oft viel gewonnen.

Also müssten wir sagen, Weiterlesen