Ich möchte heute gerne eine Geschichte erzählen, die ich mit einem Patienten erlebt habe. Die Namen und andere Einzelheiten sind, wie üblich, geändert.
„Guten Tag Herr Bayer. Was bewegt sie denn zur Zeit?“ fragte ich. „Ich komme in die Hölle“, antwortete er ganz ernst. „Warum kommen Sie denn in die Hölle?“ „Ich habe viel falsch gemacht.“ „Was haben Sie denn zum Beispiel falsch gemacht, wenn ich fragen darf?“ „Ich war faul in der Schule. Ich habe nichts gelernt. Ich habe nichts aus meinem Leben gemacht. Darum komme ich in die Hölle.“
„Ah… und wie ist es dort in der Hölle?“ „Heiß. Da ist Feuer.“ „Mit dem Feuer ist das ja so: In derMitte ist die Glut. Da ist es am heißesten. Drumherum sind die Flammen. Die sind weniger heiß als die Glut, aber auch sehr heiß. Wenn man neben dem Feuer steht, ist es weniger heiß. Man kann einen Meter neben dem Feuer stehen oder zehn Meter oder hundert Meter. Das ist eine Entscheidung, ob man nah am Feuer oder weiter weg stehen möchte. Wo möchten Sie denn stehen?“ „Ich stehe immer da, wo es ganz heiß ist.“
„Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie in die Hölle kommen?“ „In Rodalben gab es eine Konferenz von denen aus der anderen Welt, aus dem Jenseits. Da war ich dabei.“ Wann war das denn?“ „Vor 20 Jahren.“ „Und was haben die aus dem Jenseits Ihnen da mitgeteilt?“ „Das war schwer zu verstehen. Die haben ganz undeutlich gesprochen.“ „Wenn die ganz undeutlich gesprochen haben, die aus dem Jenseits, da haben Sie ja ein echtes Problem… das ist ja ganz schwierig für Sie, wenn die sich nicht klar und verständlich ausgedrückt haben. Da könnte es zum Beispiel sein, dass die über einen Herrn Meyer gesprochen haben, und Sie haben ‚Herr Beyer‘ verstanden. Die sagten zum Beispiel ‚Herr Meyer geht in die Hölle!‘ und Sie haben verstanden ‚Herr Beyer geht in die Hölle. Und da laufen Sie seit zwanzig Jahren herum, und vielleicht ab jetzt noch dreißig oder vierzig Jahre, und denken, die müssen zur Hölle und dabei geht in Wirklichkeit nicht Herr Beyer, sondern Herr Meyer zur Hölle! Und Sie machen sich all die Jahre lang die ganzen Sorgen ganz umsonst! Ich finde das nicht richtig, dass die nicht deutlich reden! Sie haben doch einen Anspruch darauf, zu wissen, was aus Ihnen wird! Sonst haben Sie ja den ganzen Kummer für nichts und wieder nichts, bloß weil die Sie nicht richtig informieren!“ Herr Bayer sagte nichts, schaute mich aber die ganze Zeit interessiert an. Es sah so aus, als ob er über etwas Schwieriges nachdächte und noch zu keinem Schluss käme. So fuhr ich fort.“Wissen Sie, wenn mir ein Rechtsanwalt oder Staatsanwalt eine Vorladung zum Gericht schicken würde und das Papier wäre so verschmiert, dass ich nichts lesen könnte, dann bräuchte ich auch nicht zur Verhandlung zu gehen. Da wird jeder Richter sagen: Diese Art der Vorladung genügt der juristischen Formpflicht nicht. Wer so unklar angeschrieben wird, braucht auch nicht zu kommen. Oder wenn jemand vom Gericht mich anruft und sagt: „Schuschalalawawa“ und meint,ich müsste so ein undeutliches Gerede verstehen, und das soll eine Vorladung sein, da brauche ich nicht zu erscheinen. Genaus ist das mit dem jüngsten Gericht: Wenn die wollen, das Sie zur Hölle gehen, dann müssen sich deutlich ausdrücken und Sie klar informieren. Sonst brauchen Sie da nicht hin. Wenn Sie nicht einmal sicher wissen können, ob die Beyer oder Meyer oder Dreyer gesagt haben, dann gilt das nicht und Sie brauchen dann auch nicht zur Hölle. Ist das für Sie nachvollziehbar?“
„Wie komme ich denn da jetzt raus?“ fragte der Mann.“Wo raus?“ „Aus dem negativen Denken.“ „Ah. Sie möchten raus aus dem negativen Denken. Die meisten Leute werden Ihnen sagen: Indem Sie positiv denken. Aber durch positives Denken kommen Sie da nicht raus, sondern durch positive Träume. Stellen Sie sich zum Beispiel vor,in Ihrem Leben sieht es so aus wie in einem Bergdorf, wo ein Fluss über die Ufer getreten ist und ganz viel Schlamm und Geröll mit sich gebracht hat. Nach diesem Unglück trifft sich der Gemeinderat mit en Dorfbewohnern, der Feuerwehr und dem Katastrophenschutz und Sie besprechen, was zu tun ist. Als erstes kommen Leute mit Baggern, Raupen und Lastwagen, um das grobe Geröll wegzuschaffen. Können Sie sich das vorstellen?“ „Ja.“ „Genau. Sie können sehen, wie die das alles wegschaffen. Danach kommen Leute mit Schläuchen und Besen. Die schaffen all den Schlamm und Sand aus dem Dorf, den ganzen Dreck, der da von weiter hinten reingekommen ist. Sie können Sehen, wie die das alles ins Tal hinunter spülen. Danach kommt ein Team von Handwerkern. Da kommen Maurer, Gipser, Maler, vielleicht auch Elektriker, Installateure, Stukkateure, Restaurateure… Was stellen Sie sich vor, machen die?“ „Die können Decken einziehen und Zwischenwände mauern.“ „Genau. Was noch?“ „Teppichboden legen. Leitungen verlegen. Vorhangschienen anbringen…“ „Genau. Nach den Handwerkern kommen die Gärtner. Die legen den Park und die Grärten wieder an. Vielleicht kommt noch ein Dorfbrunnen oder eine Dorflinde dazu, um das Dorf noch schöner zu machen, als es vorher war. Und ein Gedenkstein. Kann man sich das vorstellen?“ „Nicht so gut…“ „Na, Sie brauchen sich das noch nicht vorstellen können. Sagen Sie ihrer Seele einen schönen Gruß, dass sie das für Sie macht, so dass Sie sich darum gar nicht zu kümmern brauchen. Danach kommen ganz wichtigen Leute. Das ist das Präventionsteam. Die sorgen dafür, das so etwas nicht mehr wieder vorkommt. Die können zum Beispiel oberhalb des Dorfes den Hang bepflanzen, damit die Wurzeln der Bäume das Erdreich festhalten. Sie können da Mauern und Zäune im Stil von Lawinenzäunen hinbauen. Sie können dem Bach ein tieferes Bett graben, können Staustufen und Rückhaltebecken bauen oder sogar eine Umleitung für das überschüssige Bachwasser konstruieren.“
„Ich glaube, mein Vater hat mich zu sehr geschlagen“, sagte der Mann plötzlich. „Er hat mit mir das Einmaleins gelernt und hat gesagt: ‚Wenn du das jetzt nicht weißt, bekommst du noch mehr Schläge!‘ Ich konnte so nicht lernen.“ „Dann waren Sie vielleicht gar nicht faul. Sie haben nur das Lernen vermieden, um nicht an die Schläge zu denken“, sagte ich. „Ich habe mir in meinem Leben alles kaputt gemacht“, sagte er. Er erzählte, dass es ihm Angst mache, wenn sich jemand über ihn freue oder etwas Gutes zu ihm sage. Ich sagte: „Vielleicht ist das, weil Sie Freundlichkeit und Gewalt früher wie ein Gemisch erlebt haben. Das kam fast gleichzeitig. Und wenn Sie jetzt freundliche Menschen erleben, bekommen Sie Angst vor der Gewalt. Sagen Sie Ihrer Seele bitte einen schönen Gruß, dass Sie nur noch genau diejenigen Menschen zu fürchten brauchen, die Ihnen Gewalt angetan haben, und auch das nur noch in Situationen, die genauso sind wie damals, als das Schlimme passiert ist. Alles andere, können Sie Ihrer Seele sagen, ist zuviel gelernt. “ Dann erzählte ich ihm die Geschichte von einem verfallenen Schloss, das lange vernachlässigt worden war, durch dessen Dach der Regen tropfte und in dem Vandalen ihr Unwesen getrieben hatten – was nichts mit dem Wert des Schlosses zu tun habe, das von Anfang an schön konzipiert gewesen war. Und nun werde das Schloss renoviert. Später erzählte ich ihm von einer verfahrenstechnischen Anlage, mit der man etwa ein Gemisch von Erdbeerquark und Jauche bis zum letzten Molekül vollständig trennen könnte. Ich bat ihn, er möge seiner Seele auszurichten, sie solle mit dem Gemisch von Liebe und Gewalt, das er erfahren habe, dasselbe tun, dann die Gewalt dorthin zurückgeben, wo sie herkam und die Liebe behalten. So fuhr ich fort, auf alles, was er sagte, mit Geschichten zu antworten, die wie Träume seine bisherigen Belastungen und Möglichkeiten, diese loszulassen, in Bilder fasste.
„Der Weg von der Hölle zum Himmel ist weit“, sagte er plötzlich. „Sie haben schon ein gutes Stück zurückgelegt“, erwiderte ich. „Noch nicht so viel.“ „Sie gehen in die richtige Richtung. Der Rest ist eine Frage der Zeit.“ Der Mann erzählte mir daraufhin, wenn er unter Menschen sei, breche zu viel über ihn herein. “ „Kennen Sie diese Sonnenbrillen, die sich automatisch verdunkeln, wenn es zu hell wird?“ fragte ich. „Ja, so eine hatte ich einmal.“ „Wenn Sie unter Leuten sind, stellen Sie sich vor, eine Glaskugel um sich zu haben, die sich so verdunkelt, wenn die Menschen zu freundlich oder auf andere Art anstrengend für Sie sind.“ Er überlegte einen Augenblick. „Ich brauche viel Vertrauen.“