Selbsttherapie bei Schüchternheit

Eugen war mit seiner Frau und seinem siebzehnjährigen Sohn Till in Urlaub. Der Junge war unglücklich darüber, dass er so schüchtern war, und fragte seinen Vater, wie er etwas dagegen tun könne. Eugen sagte: „Vor einiger Zeit war ich mit unserem Freund Stefan abends unterwegs. Uns störte, dass wir uns nicht trauten, mit Frauen, die wir nicht gut kannten, ins Gespräch zu kommen. Also vereinbarten wir einen Wettbewerb. Erst durfte ich ihm eine Mutprobe auferlegen, dann er mir, und dann abwechselnd den ganzen Abend so weiter. Durch ein Punktesystem sollte der Gewinner des Abends ermittelt werden. Es gab zwei Punkte für jede bewältigte Herausforderung, einen für jeden ernsthaften Lösungsversuch und null Punkte fürs Aufgeben. Die einzige Bedingung für die Lösung der Aufgaben war, dass unsere Experimente für niemanden kränkend sein sollten. Die erste Aufgabe bestand darin, der Bedienung im Café ein Kompliment zu machen, die zweite war es, mit einer Dame von irgendeinem Nachbartisch eine mindestens einminütige Konversation zu beginnen. Am Ende gab ich Stefan die Aufgabe, einer ihm unbekannten Frau einen Handkuss zu geben, ohne dass diese sein Vorgehen beanstandet.“ „Hat er das gemacht?“ „Er hat zwei Frauen, die uns auf dem Bürgersteig überholen wollten, angesprochen. Eine von ihnen redete gerade irgendetwas über ‚Mut‘. ‚Apropos Mut‘, sagte er zu ihr, ‚wir machen gerade eine Mutprobe. Ist das für Sie in Ordnung, wenn ich Ihnen einen Handkuss gebe?‘ Die Frau hat gestutzt: ‚Wer wäre denn dasnn mutig?‘, antwortete sie. ‚Sie und ich‘, sagte Stefan. ‚Und danach?‘ ‚Dann gehen Sie in die eine Richtung weiter, und wir in die andere.‘ ‚Mehr nicht?‘ ‚Mehr nicht.‘ Und Stefan bekam ihre Hand zum Kuss. Wir haben die beiden später an dem Abend noch einmal gesehen und haben uns sehr fröhlich gegrüßt.“ „Das mache ich auch“, sagte Till. Das nächste, was Eugen sah, war, dass Till in dem italienischen Dorf, in dem sie sich gerade befanden, Jeden, aber auch wirklich jeden Passanten, den er traf, mit einem überschwänglichen „Hi!“ begrüßte. Die Leute schauten etwas irritiert, aber einige grüßten zurück. Dann probierte er dasselbe mit „Ciao!“. Er bekam noch mehr Grüße und kam, obwohl er kein Italienisch sprach, mit etlichen Dorfbewohnern auf Deutsch, Englisch und Zeichensprache ins Gespräch. Einige Zeit später erwähnte seine Mutter, sie müsse in die Apotheke, Tampons kaufen. „Laß mal, ich mach das für dich“, meinte Till. Und er ging in die Apotheke. Die Apothekerin verstand ihn nicht und brachte ihm einen Schnuller. „Nicht hier“ antwortete Till, schüttelte den Kopf und deutete auf den Mund, „sondern hier“, und deutete zwischen seine Beine. „Tampons!“ „Wie? Für wen?“ fragte die Apothekerin. „Für meine Mutter“, sagte Till und strahlte.

Die Randlinie

Gestern fragte mich jemand nach einer Geschichte für eine Borderline-Patientin, die sich ritzt und sich oftmals schämt, weil die Haut ihrer Arme so rau und vernarbt ist. Ich sagte zu ihr:

„Vielleicht ist es dir auch schon passiert, dass du auf der Autobahn auf die Randlinie gefahren bist. Früher hat man zum Zeichnen dieser Randlinien einfach Farbe verwendet. Man hatte aber das Problem, dass manchmal Leute auf der Strecke eingeschlafen sind und von der Spur abgekommen sind. Dann hatte jemand eine gute Idee. ‚Wenn die Randlinie aus einem Material mit Querrillen ist, dann gibt es ein lautes Geräusch, sobald jemand mit seinem Auto die Rille berührt. Man wacht sofort auf und kommt zurück auf die richtige Spur.‘ Sie haben das ausprobiert, und schon nach den ersten Versuchen hat es immer besser geklappt: jedesmal, wenn jemand diese Grenzlinie schnitt oder sie überhaupt auch nur am Rande mit seinem Reifen berührte, gab es ein so lautes Signal, dass die Leute sofort zurücklenkten und weiterfuhren auf der dafür vorgesehenen Spur. Seit sie dieses Warnsignal beim Berühren derRandlinie eingeführt haben, sind Unfälle dieser Art weit zurückgegangen. Man kennt die Methode inzwischen auch bei Mittellinien und anderen in Frage kommenden Markierungen.“

Kopfpiep und Stilleklang

Diese Woche schrieb mir jemand die folgende E-mail, die ich mit seiner Erlaubnis zitiere…

Sehr geehrter Herr Hammel,

Ich möchte ihnen gerne meine Erfahrung mitteilen mit dem Hören der Stille-Klang-Hördatei, die ich von ihrer Website gedownloadet habe. Ich bin Pianist, habe seit 1 Jahr einen Piep im Kopf, lebe in Holland und bin an allen Therapieformen interessiert die es gibt für Tinnitus.

Nachdem ich bislang immer mit Klangstücke-CDs für Tinnituspatienten meditiert habe, war ihre StilleKlang eigentlich ein Schritt in eine ganz andere Richtung, nämlich Richtung Stille, anstatt den KopfPiep zu maskieren mit anderen Geräuschen / Klängen. Das fand ich faszinierend. Nach 3-maligem Hören hat sich zwar an den Beschwerden noch nichts geändert, wohl aber an meiner Sensibilität für Stille. Das führt dazu, dass ich nun im Alltag oft die Stille dem auflegen einer CD vorziehe, außerdem habe ich einiges aufgeräumt (ge-simplifyt). Das Thema: Musiker und Fehler / vollkommene Musik finde ich interessant.
Auch die Assoziation Hoch – Stille / Freiheit. Mit dem Bild des Aufzugs konnte ich nicht soviel anfangen, auch nicht mit dem 10stöckigen Haus (ich sehe dann immer ein langweiliges Bürogebäude). Ich werde die StilleKlang noch weiter hören, um zu sehen, ob ich noch Neues hinzuentdecke.

Meine Frage nun ist: Vielleicht haben Sie noch ein paar Tips für mich, oder auch Literaturhinweise, haben sie selber etwas geschrieben, oder andere, was zu meiner Situation passen würde?

Liebe Grüsse,

A. P.

Ich schrieb ihm zurück:

Sehr geehrter Herr A. P.,

Literatur zur hypnotherapeutischen Bearbeitung von Tinnitus gibt es fast keine.
Ein Buch von Dr. Steinriede kommt zu dem Ergebnis, man könne die erlebte Lautstärke (resp. Stille 😉 ) regelmäßig nicht beeinflussen, nur den psychologischen Umgang damit. Dem widersprechen die Beobachtungen / Messungen von Dr. Schneider und mir. Die von uns gemessenen Patienten haben nach der Arbeit mehr Stille oder völlige Stille erlebt. Ich arbeite meistens nicht mit einer förmlichen Hypnose und tiefer Trance, sondern mehr mit Alltagstrancen, wie man sie auch sonst beim Tagträumen erlebt. Eine Sammlung von Interventionen, die ich in dem Heidelberger Tinnitusversuch wiederholt verwendet habe, finden Sie skizziert unter: www.hsb-westpfalz.de/das-team/dr-p-schneider/interventionen.html . Ansonsten hier einige „Fragmente“ zur Hypnotherapie bei Tinnitus.

Der amerikanische Hypnotherapie-Entwickler Milton Erickson hat im Rahmen der Trancearbeit mit einem  Tinnitushörer folgende Geschichte verwendet.

Erickson erzählt: Ich gebe dir eine Geschichte, damit du es besser verstehst? wir lernen nämlich Dinge auf eine sehr ungewöhnliche Art, auf eine Art, von der wir nichts wissen. In meinem ersten Collegejahr kam ich an einer Kesselfabrik vorbei. Die Arbeiter waren an zwölf Kesseln gleichzeitig beschäftigt, und sie waren in drei Schichten eingeteilt. Und diese pneumatischen Hämmer schlugen unablässig auf das Metall und trieben Nieten in die Kessel. Ich hörte den Lärm und wollte herausfinden, was es war. Nachdem ich erfuhr, dass es eine Kesselfabrik war, ging ich hinein und konnte darin niemanden reden hören. Ich konnte sehen, wie die verschiedenen Angestellten Gespräche führten. Ich konnte sehen, wie sich die Lippen des Vorarbeiters bewegten, aber ich konnte nicht hören, was er zu mir sagte. Er hörte, was ich sagte. Ich bat ihn nach draußen, damit ich mit ihm reden könnte. Und ich bat ihn um Erlaubnis, meine Decke mitzubringen und dort für eine Nacht auf dem Boden zu schlafen. Er dachte, mit mir stimmt etwas nicht. Ich erklärte, dass ich ein angehender Medizinstudent sei und dass ich an Lernprozessen insteressiert sei. Und er erlaubte mir, dass ich meine Decke mitbringen und auf dem Boden schlafen dürfte. Er erklärte es allen Arbeitern und ließ einen Zettel für die nächste Schicht da. Am nächsten Morgen wachte ich auf. Ich konnte hören, wie die Arbeiter über diesen bescheuerten Jungen redeten. Warum zum Teufel schlief er hier auf dem Boden? Was wollte er denn dabei lernen? Im Schlaf während der Nacht blendete ich all diesen schrecklichen Lärm von zwölf oder mehr pneumatischen Hämmern aus und ich konnte menschliche Stimmen hören.

Ich wusste, es ist möglich, zu lernen, nur bestimmte Geräusche zu hören, wenn du deine Ohren richtig einstellst. Du hast ein Piepen in den Ohren, aber du hast noch nicht daran gedacht, die Ohren so einzustellen, dass du das Piepen nicht mehr hörst. Und wenn du zurückblickst, dann sind da eine Vielzahl von Zeiten, an denen du heute aufgehört hast, das Piepen zu hören. Es ist schwierig, sich an Dinge zu erinnern, die nicht auftreten. Aber das Piepen hat aufgehört. Aber weil nichts da war, erinnerst du dich nicht mehr daran? Nun ist das Wichtige, die Sache mit dem Piepen zu vergessen und sich an die Zeiten zu erinnern, als kein Piepen da war. Und das ist ein Lernprozess. Ich habe in einer Nacht gelernt, nicht mehr die pneumatischen Hämmer in der Kesselfabrik zu hören ? und ein Gespräch zu hören, das ich am vorigen Tag nicht hören konnte? ich wusste, was der Körper automatisch tun kann? Nun verlasse dich auf deinen Körper. Vertraue ihm. Glaube an ihn. Und wisse, dass dir das ausgezeichnet helfen wird.
(M.H.Erickson, in: D.C.Hammond, Handbook of Hypnotic Suggestions and Metaphors, 266)

Einige Interventionen von mir habe ich in kurzen Geschichten skizziert:

„Treiben Sie Sport?“ „Taekwondo.“ „Welcher Gürtel?“ „2. Dan.“ „Gut. Hören Sie zu. Stellen Sie sich vor, Ihr linkes Ohr, das die Stille gut kennt, ist der Meister. Ihr rechtes Ohr, das den Tinnitus kennt, ist der Schüler. Was kann der Meister den Schüler lehren, und was möchte der Schüler von seinem Meister lernen?“ „Konzentration.“ „Gut. Hören Sie dem Meister für eine Zeitlang zu, und schauen Sie ihm zu, wie er den Schüler unterweist. Beobachten Sie den Schüler, wie er auf seinen Lehrer hört und seinen Anweisungen folgt. Was nehmen Sie wahr?“ „Jetzt ist es still.“ (S.Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens, 84)

Sie liebte es, in die Disco zu gehen. Wenn ihre Eltern sie abholten, wunderten sie sich jedes Mal: „Wie kannst du es aushalten bei dem Krach?“ Doch sie wusste: Laut ist die Musik nur am Anfang. Schon bald ist das Laute nicht mehr laut. Das Ohr stellt die Lautstärke nach.
Sie liebte es, abends im Bett noch leise Radio zu hören. Zwar hatten ihr die Eltern das verboten, wenn sie am nächsten Tag Schule hatte, doch stellte sie das Radio so leise ein, dass sie fast nichts mehr hörte. Sie wusste: Leise ist die Musik nur am Anfang. Schon bald ist das Leise nicht mehr leise. Noch mehrere Male kann sie das Radio noch leiser stellen, und immer noch hört sie alles genau. Denn das Ohr stellt die Lautstärke nach.

Als wir das erste Mal mit der Behandlung von Tinnitus experimentierten, ließ ich den Probanden auf einer Skala von 0 bis 10 die aktuelle Lautstärke bewerten. Es gelang uns, seinen Tinnitus zu reduzieren.
Den nächsten Probanden ließ ich die Leisheit beurteilen. Der Proband fand diese Vorstellung etwas mühsam, doch wir erreichten, dass der Tinnitus völlig verschwand.
Die dritte Probandin ließen wir nach jeder Intervention auf einer Stilleskala den Grad der bereits erreichten Stille skalieren. Das Arbeiten wurde nochmals leichter. Auch diese Probandin verlor ihren Tinnitus ganz.

Einer Therapeutin, die zum Thema nachgefragt hat, habe ich geschrieben:

„Den Tinnitus betreffend denke ich: Erfragen sie, wonach er klingt, z.B. nach einem Bienenkorb, einem hohen elektrischen Ton oder dem Brummen eines Motorfliegers – und machen Sie dann mit der Klientin eine Reise zu einem Ort, wo dieses Geräusch vorkommt und seinen Sinn hat.
Oder lassen Sie die Klientin ein Gerät konstruieren bzw. ein Tier erfinden, das genau dieses Geräusch macht und lassen Sie sie das Gerät oder Tier in allen Einzelheiten beschreiben.
Kommen Sie dann auf Eigenarten und Fähigkeiten des Gerätes oder Tieres zu sprechen, die therapeutisch nützlich sind (Produktions- / Reparaturwerkzeug / Jagdinstinkt, mütterliche Fürsorge, bei Fledermäusen Nutzung des hohen Tones zum Orten von Beute und Artgenossen, bei Delfinen zur Verständigung, bei einer Hundepfeife Signalfunktion).
Sie können Trance auch erzeugen, indem Sie die Frau bitten, sich nur auf den Klang des Tons zu konzentrieren und vor diesem Hintergrund allmählich immer deutlicher Ihre Worte zu bemerken.
Sie können die Trance durch Dissoziation vertiefen, wenn sie suggerieren: ‚Während ein Teil Ihrer Aufmerksamkeit sich ganz auf diesen Ton konzentriert, ist ein anderer Teil mit dem beschäftigt, was ich sage.'“

Viele Grüße,
Stefan Hammel

Frei nach Heisenberg

Als wir das erste Mal mit der Behandlung von Tinnitus experimentierten, ließ ich den Probanden auf einer Skala von 0 bis 10 die aktuelle Lautstärke bewerten. Es gelang uns, seinen Tinnitus zu reduzieren.
Den nächsten Probanden ließ ich die Leisheit beurteilen. Der Proband fand diese Vorstellung etwas mühsam, doch wir erreichten, dass der Tinnitus völlig verschwand.
Die dritte Probandin ließen wir nach jeder Intervention auf einer Stilleskala den Grad der bereits erreichten Stille skalieren. Das Arbeiten wurde nochmals leichter. Auch diese Probandin verlor ihren Tinnitus ganz.

Was war hier Wissenschaft, was Therapie? Die Art der Messung bestimmte das Ergebnis und wurde Teil der Therapie.

Das Symptom wegsingen

Neulich hat mir ein Freund die folgende Geschichte erzählt…

„Wir gingen spazieren. Meine Frau Carola hatte einen starken Schluckauf. Ich fing an, im Rhythmus zu unseren Schritten zu singen und bat sie darum, ihren Schluckauf in das Lied einzubringen, indem sie ihn rhythmisch zwischen den Liedzeilen einfügte. Beim ersten Mal kam der Schluckauf genau an der richtigen Stelle. Ich lobte sie und forderte sie auf, so weiter zu machen. Beim zweiten Mal musste ich warten, bis sie ihren Schluckauf eingefügt hatte. Ich bat sie um eine korrekte Beachtung des Taktes. Innerhalb von weniger als einer Minute verschwand der Schluckauf.“

Die Geschichte illustriert eine  Interventionsform aus der systemischen Therapie (wie auch aus der Hypnotherapie Milton Ericksons), die Symptomverschreibung. In diesem Beispiel wird das Symptom nicht nur gefordert, sondern außerdem noch instrumentalisiert und ritualisiert. Dabei wird das zunächst unwillkürlich auftretende Symptom in den Dienst absichtsvollen Handelns gestellt. Weil es nicht möglich ist, einen Schluckauf bewusst zu gestalten, kollabiert das Symptom.

Die Ahnungslosen

„Ich habe oft Jugendliche vor mir sitzen, die auf jede Frage, die ich ihnen stelle, antworten: ‚Keine Ahnung‘. Was kann man mit denen machen?“ fragte mich eine Beraterin.

„Erzähle ihnen vom Stamm der Ahnungslosen“, sagte ich. „Sie leben im Dschungel der Unwissenheit und haben echt keine Ahnung. Als sie sich Hütten bauen wollten, haben sie am Anfang Gras genommen. Das hat aber nicht geklappt, dann haben sie Blätter genommen. Danach haben sie es mit Lianen probiert, das war auch nicht so gut. Rindenstücke waren zwar besser, aber auch nicht überzeugend. Sie haben alles mögliche versucht, es war alles nichts. Die Holzhütten haben dann schließlich gehalten. Dann wollten sie sich Kleider machen. Und sie hatten echt keine Ahnung. Sie haben mit Schlamm experimentiert, den sie auf der Haut haben trocknen lassen, und danach mit Büffelmist, den sie zu breiten Fladen ausgerollt haben und nach dem Trocknen um die Hüften gelegt haben. Das war zwar besser, hat aber bei Regen nicht mehr funktioniert. Kleider aus Dornengestrüpp waren auch nicht das Richtige. Irgendwann haben sie dann Flechtröcke und Lederstücke verwendet, von da an ging es besser. Die waren so blöd, die waren echt ahnungslos. Einmal wollten sie ein Boot bauen. Da haben sie Wasserpflanzen verwendet. Auch die Boote aus Stein waren nicht gut. Die Ahnungslosen haben alles Mögliche probiert. Sie waren so ahnungslos, dass sie noch nicht mal ans Aufgeben gedacht haben. Das ist schon eine Leistung. So haben sie halt immer weitergemacht. Irgendwann hat mal einer einen Baum ausgehöhlt. Das hat funktioniert, das haben sie beibehalten. Dann wollten sie Fischen fahren. Erst wollten sie die Fische vergiften, aber das war nicht so gut… und so weiter…

Erzähle den Jugendlichen so lange von den Ahnungslosen, bis sie es überdrüssig werden und von ‚keine Ahnung‘ nichts mehr wissen wollen. Erzähle ihnen so lange, wie die Ahnungslosen ‚keine Ahnung‘ hatten, bis die Jugendlichen zwischen Amüsiertheit und zunehmend genervter Ungeduld schwanken. Dann erzähl ihnen eine Lösung und ziehe die nächste Etappe wieder in die Länge. Nimm dir Zeit. Lass die Ahnungslosen so doof sein, wie es nur geht, und noch viel unfähiger, als die Jugendlichen sich fühlen. Lass sie so bescheuert sein, dass die Jugendlichen nur über sie lächeln können. Die Ahnungslosen sind maximal blöd. Das Gute ist nur, dass sie immer weiter machen und immer Erfolg haben. Wer den Stamm der Ahnungslosen kennt, für den ist, ‚keine Ahnung‘ zu haben, nicht mehr cool und auch nicht mehr egal. Aber es ist auch keine Tragödie. Man kann etwas daraus machen.“

Das Zölibat

Es war irgendwann in der Zukunft. Eines Morgens erwachte ein Papst mit einem seltsamen Traum. Im Traum hatte er vor Tausenden von Priestern gesprochen. Aus einer Eingebung heraus hatte er gerufen: „Mit dem heutigen Tag ist das Zölibat aufgehoben. Priester dürfen ab jetzt wieder heiraten.“ Die Priester aber jubelten nicht. Sie schauten ihn an und schwiegen still. Da hörte er hinter sich eine Stimme: „So viele Jahre lang habe ich mir viele Freuden versagt und mein Leben nach der rechten Lehre ausgerichtet. Soll das alles umsonst gewesen sein?“ Er drehte sich um und sah in einen Spiegel. Da hörte er einen Chor von Priestern, die sangen in Psalm und Antiphon: „Soll das umsonst gewesen sein?“ „Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht!“ Später an jenem Morgen traf der Papst einen Kardinal und fragte ihn: „Was würde passieren, wenn ich das Zölibat aufhöbe?“ „Du hättest ein Leben lang vieles umsonst getan und unterlassen. Du wärest umgeben von Menschen, die ein Leben lang vieles umsonst getan und unterlassen haben. Wir müssten unser Leben neu ausrichten. Es gäbe eine Krise. Bedenke, was du tust.“ „Ja“, sagte der Papst, „das ist ein wirklich mutiger Schritt“

Die Geschichte vom Zölibat habe ich gestern im Zusammenhang eines Mannes erwähnt, der eine längere Zeit der Depression durchlitten hatte und sich davon in relativ kurzer Zeit erholt hatte. Ich habe die Geschichte zuerst im „Handbuch des therapeutischen Erzählens“ aufgeschrieben. Als Anwendung für die Geschichten habe ich dort notiert:

Die Therapie von Zwangshandlungen oder Wahnvorstellungen, die für die Biographie eines Menschen bereits prägend sind, weil sie über eine längere Zeit unter Einbeziehung der Familie und der Öffentlichkeit ausgelebt wurden, oder weil sie mit großen Opfern verbunden waren, kann erschwert werden durch die Notwendigkeit, die Vergangenheit  neu zu interpretieren. Es ist eine große Leistung, die Vergangenheit umzuschreiben und persönlich und öffentlich hinter der neu gefundenen Lebensdeutung und Lebensgestaltung zu stehen. Um dem Klienten den Schritt in ein solches neues Leben zu ermöglichen, kann es sinnvoll sein, auf den Preis hinzuweisen, der dafür zu zahlen ist. Zu diesem Preis gehört oft auch die Trauer verpasste Chancen in der Vergangenheit. Wer einen solchen Schritt tut, hat Respekt und Bewunderung verdient.

Vom Problem, ohne Problem zu sein

Gestern hatte ich hier eine Therapiestunde mit einem 19-jährigen jungen Mann, der etwa ein Dreivierteljahr unter Depressionen gelitten hatte und zuletzt zunehmend suizidal gewesen war. Die Therapie war sehr gut verlaufen, wir hatten innerhalb weniger Sitzungen die Depression weitgehend auflösen können. In der gestrigen Therapiestunde, etwa drei Monate bzw. sechs Sitzungen nach dem Höhepunkt der Depression, sagte er: „Mir geht es richtig gut. Allerdings… ich habe eine Sendung gesehen, wo berichtet wurde über Leute, die die Diagnose AIDS bekommen haben und dann nach einem Vierteljahr erfahren haben, dass sie die Krankheit doch nicht haben. Sie haben daraufhin eine Identitätskrise bekommen und richtig Probleme gehabt, mit der neuen Situation fertig zu werden. Sie hatten sich schon so mit ihrer Krankheit identifiziert, dass es schwierig war, sich plötzlich als gesund zu sehen. So ähnlich geht es mir. Ich merke, dass ich ins Schwimmen komme und erst herausfinden muss, wer ich ohne Depression bin.“

Vielleicht hätte ich ihm die Geschichte vom Zölibat erzählen sollen. Ich habe sie für mich behalten und mit ihm vereinbart, dass er das Problem, ohne Problem zu sein ohne mich lösen wird. Wir haben die Therapie beendet. Gerade stelle ich fest, dass ich die Geschichte vom Zölibat hier im Blog noch gar nicht erzählt habe. Ich erzähle sie euch also morgen. Bis dann also…

Auf nach Troja!

„Meine Ehe ist in einer tiefen Krise. Ich habe nicht das Geld, um eine Therapie zu machen. Was raten Sie mir?“ So fragte mich in diesen Tagen ein Mann am Telefon. Seine Stimme klang depressiv. Ich kannte das Paar von einer früheren Therapie. Er war Lehrer für Geschichte und andere Fächer. Seine Frau, eine gelernte Bürokauffrau, sorgte für den Haushalt und die Kinder. „Intensivieren oder reaktivieren Sie Ihre Freundschaften. Und sprechen Sie mit Ihren Eltern und Geschwistern.“ „Ich habe kaum Freunde. Die habe ich im Lauf der Jahre vernachlässigt. Und mit meiner Familie verstehe ich mich nicht.“ „Dann frischen Sie alte Bekanntschaften auf. Vielleicht Leute, die Sie jahrelang nicht gesprochen haben, vielleicht Leute in anderen Ländern oder in Ihrer früheren Heimat. Und aktivieren Sie alte Hobbies.“ „Sie werden es nicht glauben, sagte der Mann. Ich war früher Präsident des Karnevalsvereins. Aber das ist tief vergraben.“ „Dann gehen Sie auf Spurensuche. Gehen Sie graben! Heinrich Schliemann hat gegraben und Troja gefunden, und er hat dort einen Schatz gefunden, den er unter Gefahren geborgen hat. Es gibt ein Bild von seiner Frau, wie sie den Goldschmuck einer trojanischen Königin um den Hals trägt. Machen Sie sich auf die Suche.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile. „Auf nach Troja!“, sagte der Mann, als er das Gespräch beendete.

Das wirklich, wirklich gute Weihnachtsfest

Eine wahre Weihnachtsgeschichte…

Seit ein paar Jahren wohnten sie zusammen. Sie verstanden sich wirklich, wirklich gut. Nur jedes Jahr an Weihnachten verstanden sie sich wirklich, wirklich schlecht. Sie kam aus einer wirklich, wirklich guten Hamburger Familie und er aus einer wirklich guten Heidelberger Familie. Sie hatte mit ihren Eltern bis dahin jedes Jahr ein wirklich, wirklich gutes Hamburger Weihnachtsfest verbracht. Er hatte bis dahin mit seiner Familie ein wirklich, wirklich gutes Heidelberger Weihnachtsfest gefeiert. Nun wohnten sie in Darmstadt. Im ersten Jahr feierten sie dort ein wirklich, wirklich schlechtes Heidelberger Weihnachtsfest. Im zweiten Jahr feierten sie dort ein Hamburger Weihnachtsfest. Das war auch wirklich, wirklich schlecht. Im dritten Jahr versuchten sie ein Heidelberger Hamburger Weihnachtsfest. Das war das wirklich, wirklich schlechteste Weihnachten von allen. Nun saßen sie da und überlegten, was sie dieses Jahr wohl feiern könnten. Sie entschieden sich für ein Darmstädter Weihnachtsfest. Es wurde ein wirklich, wirklich gutes Fest.

(Stefan Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens, Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision. Klett-Cotta 2009)