Durchhalten

Ich möchte gern eine Geschichte erzählen, die vom Durchhandeln handelt, und davon, zusammenzuhalten, zu seinen Werten und zu seinem Selbstwertgefühl zu stehen. Ich weiß noch nicht genau, wie ich sie therapeutisch nutzen kann. Ich erzähle sie hier, weil sie mich berührt.

Im Westjordanland, etwa zehn Kilometer südwestlich von Bethlehem, haben wir Familie Nasser besucht. Die Nassers sind eine christlich-palästinensische Bauernfamilie, die ihren kleinen Hof auf der Anhöhe zu einem Begegnungszentrum gemacht haben für Palästinenser, Israleis und Menschen aus aller Welt, die Frieden suchen. Am Eingangstor des kleinen Landwirtschaftsbetriebes liegt ein Stein, auf den sie geschrieben haben: „We refuse to be enemies. Wir weigern uns, Feinde zu sein.“

Was es mit diesem Satz auf sich hat, haben wir im Gespräch mit dem Besitzer des Betriebs erfahren. „Mein Großvater“, so erzählte er, hat dieses Land im Jahr 1917 von der damaligen osmanischen Besatzungsmacht gekauft. Dann hat er etwas getan, was für die damalige Zeit und noch lange danach sehr ungewöhnlich, ja, geradezu verrückt war. Er hat sich Papiere über den Grundbesitz ausstellen lassen und hat Steuern gezahlt. Jahr für Jahr hat unsere Familie Steuern gezahlt für dieses Papier, das sonst keiner hatte.“ Bis dahin hatten die Bauern einfach dort gelebt, wo ihre Familien immer gelebt hatten; durch mündliche Überlieferung und durch Zeugen wusste jedes Dorf und jede Familie, wo das Land der einen anfing und wo das Land der anderen aufhörte. Warum sollte man Land von einer Besatzungsmacht kaufen, die erst kürzlich gekommen war und vielleicht schon bald von den nächsten Besatzern abgelöst werden würde? „Erst haben wir der osmanischen Besatzung Steuern gezahblt, dann der jordanischen, danach den Engländern und schließlich den Israelis. Dann hat der israelische Staat angefangen ringsumher Siedlungen zu bauen. Eines Tages kamen Soldaten und haben uns gesagt, wir sollten hier verschwinden. Wir sagten, das Land gehört uns. Sie wollten das nicht glauben. Wir haben dann den israleischen Behörden unsere Papiere gezeigt. Wir konnten belegen, dass wir das Land gekauft hatten und lückenlos unsere Steuern bezahlt hatten – an die Osmanen, an die Jordanier, an die Engländer und auch an die Israelis. Darau haben sie gesagt: „Die Papiere sind gefälscht.“ Sie haben von uns verlangt, einen israelischen Notar auf unsere Kosten nach Istanbul und London zu schicken, um in den Archiven dort nachzuschauen, ob unsere Vorfahren das Land tatsächlich gekauft haben. Der Notar hat die Belege tatsächlich gefunden. Als die israelische Seite bemerkt hat, dass sie den Prozess nicht gewinnen können, haben sie ihn verschleppt, so dass er in der Schwebe hängt und nie zu Ende gebracht wird. Dann haben sie Bulldozer geschickt, die unsere Zufahrtsstraße verschüttet haben, damit wir uns nicht mehr versorgen können. Wir haben uns dann einen anderen Zugangsweg freigeschaufelt. Sie haben den Palästinensern hier in Palästina verboten, Strom zu haben und irgendetwas zu bauen. Sie haben uns dann Abrissverfügungen geschickt für die Gebäude, die hier stehen. Wir haben gesagt, die sind damals rechtmäßig gebaut worden. Ich fragte einen von ihnen: ‚Gilt für mich das gleiche Recht, wie für einen Israeli, der hier wohnt?‘ Er sagte: ‚Ja.‘ Ich fragte: ‚Dort drüben sind Häuser, die israelische Siedler ohne Genehmigung gebaut haben. Warum schickt ihr dorthin keine Abrissgenehmigung?‘ Der Mann sagte: ‚Das geht Sie nichts an.‘ Gegen den Abriss unseres Wohnhauses haben wir prozessiert. Als wir fertig waren und die Genehmigung zurückgenommen war, haben sie uns einfach sechs neue Abrissverfügungen geschickt. Die Zelte und der Verschlag für die Hühner, alles soll angeblich ein Gebäude sein und darum abgerissen sein. Die Hühner haben wir jetzt in einen Wohnwagen gebracht. Ein Wohnwagen ist ja kein Gebäude. Oft kreisen Hubschrauber über uns, um zu beobachten, was wir machen. Sie haben uns immer neue Abrissverfügungen geschickt. Einmal waren wir so kurz davor, dass wir uns sicher waren, dass nächste Woche die Bulldozer unser Haus abreißen. Wir haben das in E-mails ein paar Freunden in Europa mitgeteilt. Gar nicht systematisch. Wir haben gar nicht gedacht, dass wir etwas dagegen ausrichten können. Aber die haben dann offenbar so viele Briefe an die Regierung geschickt, dass dann nichts passiert ist. Auch im Moment haben wir einen Prozess gegen solche Verfügungen am laufen. Schauen Sie, wir haben uns jetzt Höhlen in den Kalkstein gebaut. Eine Höhle ist ja kein Gebäude. Und der Strom… ein Deutscher, der hier war, hat gesagt, ich organisiere Ihnen das, dass Sie Solarzellen bekommen. Ich habe das nicht geglaubt. Aber irgendwann kamen Leute und haben uns hier Solarzellen installiert. So haben wir auch Licht in unseren Höhlen. Seit 1991 haben wir 150.000 Dollar Prozesskosten, um für ein Land zu kämpfen, das uns rechtmäßig gehört, das wir gekauft haben und für das wir Steuern gezahlt haben. Wir haben auf unserem Land 250 Olivenbäume gepflanzt. Wenn man sein Land behalten will, ist es gut, etwas darauf zu pflanzen. Dann kann niemand sagen: ‚Das Land gehört niemand, es wird ja nicht genutzt.‘ Eines Nachts sind Siedler aus der Nachbarschaft gekommen und haben die 250 Olivenbäume alle abgesägt. Das hat uns sehr getroffen. Nicht nur wegen des wirtschaftlichen Verlusts. Olivenbäume wachsen sehr langsam. Für uns ist ein Olivenbaum auch ein Zeichen für Hoffnung, für den Glauben an die Zukunft. Es ist ein Symbol. Wir waren sehr niedergeschlagen. Dann hat eine jüdische Menschenrechtsorganisation in Europa von dem Fall gehört. Sie haben uns geschrieben, dass sie uns die Bäume ersetzen wollen. Ein paar Wochen später sind freiwillige Helfer aus Europa angereist und haben 250 junge Olivenbäume bei uns gepflanzt. Einige Zeit später haben wir einen anonymen Anruf bekomme. Ein Mann hat uns 1 Million Dollar für das Land geboten, dann zwei Millionen. Wir haben gesagt: ‚Das ist das Land, das unser Großvater uns gekauft hat und auf dem wir groß geworden sind. Es ist das Land unserer Famile. Wir leben hier. Es ist nicht zu verkaufen.‘ Einige Zeit später haben wir wieder einen Anruf bekommen. Sie wollten uns 10 Millionen Dollar bieten, dann zwanzig. Schließlich haben sie ins Telefon gerufen: ‚Dann sagen Sie uns doch einfach, wieviel sie wollen! Wir zahlen Ihnen auch das Ticket nach Amerika, und damit ist es dann gut!‘ Wir sind nicht darauf eingegangen. Wir wissen nicht, wie lange wir hier bleiben können. Wir prozessieren jetzt seit 1991, und es ist kein Ende in Sicht.“ Sie sagen auch: „Nicht die Israelis sind schlecht. Wir haben viele israelische Freunde. Schlecht ist das System, das so mit uns umgeht.“

Der Hügel, auf dem diese Familie lebt, gehört zu einer Bergkette, auf dem die israelische Regierung sogenannte jüdische Siedlungen errichtet, das sind Trabantenstädte rund um Jerusalen, die auf staatsfremdem Gebiet errichtet werden, wobei stetig weitere Palästinensergebiete annektiert werden. Palästina wird dadurch zu einem Löcherkäse, auf dem kein Staatsgebiet mehr errichtet werden kann, weil er von jüdischen Enklaven durchlöchert ist. Die Siedlungen werden zuerst einzeln, dann (jeweils mit einer größeren Umbaumaßnahme) als ganze Hügelkette von einer zehn Meter hohen Mauer umfriedet. Das Grundeigentum dieser Familie ist auf einem Hügel einer solchen Kette, der mit einer solchen Mauer und entsprechenden Straßen, die nur von jüdischen Siedlern benutzt werden dürfen, aus Palästina herausgeschnitten werden soll. Vorestern wurde in den Nachrichten berichtet, dass israelische Behörden solche von deutschen Firmen gebauten Solaranlagen abreißen wollen.

Übrigens: Berichte, Fotos und Videos mit Interviews und Dokumentationen zum Leben dieser Familie findet ihr hier.

 

 

Vipassana – Meditationsübungen in einem indischen Knast

Lane hat mir vor einigen Jahren diesen Film gezeigt. Ich weiß gar nicht, wie alt Lane ist. Vor vielen, vielen, vielen Jahren, als junge Rechtsstudentin in New York hat sie jeden Sonntag mit Albert Einstein Kaffee getrunken. Als Rechtsreferendarin war sie bei den Nürnberger Prozessen dabei. Später hat sie für die Vereinten Nationen und für NGOs Friedensverhandlungen geführt – manchmal in Konflikten, bei denen selbst die Tätigkeit als Mediator so gefährlich war, dass man sonst keine Vermittler finden konnte. Als Unterhändlerin bei Friedensgesprächen hat sie zwischen verfeindeten Stämmen, Banden, Familienclans und ganzen Staaten Frieden vermittelt.

Diesen Film über ein Projekt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Indien verdanke ich Lane. Er erzählt eine Geschichte über dieses Gefängnis, über seine Häftlinge und eine neue Gefängnisdirektorin, die die Idee hatte, man müsste etwas für die Menschen, die hier so viele Jahre leben, tun. Eines Tages sagte ein Gefängnisangestellter ihr, es gäbe einen Mann, der da vielleicht helfen könne, einen Meister der Meditation. Sie lud ihn ein, und so begann das Projekt, sogenannte Schwerverbrecher in die Kunst des Meditierens einzuweisen.
Vipassana – ein Projekt, das das Leben dieser Häftlinge radikal verändert hat und das später in Gefängnissen in anderen Teilen der Welt erprobt wurde. Ich wünsche euch gute Anregung und viel Spaß beim Zuschauen!


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Das Müllhalden-Philharmonieorchester

Manchmal bezeichnen Menschen in der Therapie sich selbst, ihr Leben oder einander als kaputt, als Müll, als Schrott… und manchmal nennen sie sich zwar nicht so, aber behandeln sich selbst und einander wie Schrott. Manche verletzen sich selbst, manche versuchen sich, das Leben zu nehmen. All das womöglich, weil sie die Dinge, die in ihrem Leben als wertvoll angesehen werden können, nicht mehr als Wert erkennen.

Ich glaube, dass alles im Leben wertvoll werden und als Wert genutzt werden kann. Alles, auch das Allerunnützeste kann für ein wertvolles Leben genutzt werden. Das heißt nicht, dass es immer leicht wäre, das so zu sehen – im Gegenteil! – „aus Scheiße Rosen machen“ (Virginia Satir) ist höchste Lebenskunst und anspruchsvoll!

Dieser Film erzählt eine Geschichte dazu, was aus Müll – und aus „Müllmenschen“ – werden kann. Ich wünsche euch einen schönen Tag!


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Was man hört

Diese Geschichte erzähle ich meistens Menschen, die sich auf die eine oder andere Art verausgaben, die etwas zwanghaft zu tun scheinen oder die meinen, „viel hilft viel“ und sich nicht so leicht darauf verlassen, dass manche Dinge auch von selbst geschehen, dass manche Dinge sich besser dezentral als zentral und leichter unwillkürlich als bewusst regeln lassen…

Ein berühmter Posaunist wurde nach dem Geheimnis seiner Kunst befragt. Er sagte: „Man hört nicht nur den Atem, den du verbrauchst, man hört auch den, den du zurückbehältst.“

Nachhaltigkeit

Eine Kollegin hat mir vorhin geschrieben:

„Hallo Herr Hammel,

am Freitag stand ein interessanter Artikel über den Designer Hartmut Esslinger (u.A. hat er stark das Design von Apple geprägt) in der Süddeutschen Zeitung. Eine Passage daraus will ich Ihnen gerne weitergeben:
Esslinger wird gefragt, wie Design in 30 Jahren aussehen wird. Und hat darauf keine Antwort. Er weiß nur, dass die Menschen vom Materiellen wegkommen müssen, denn dass könnten wir uns nicht mehr leisten.
Das perfekte Design sei für ihn ein Geschichtenerzähler, der früher auf dem Marktplatz stand. „Der brauchte nur ein bisschen Luft, Wasser und etwas zu essen – und hat trotzdem mit seinen Geschichten enorm viel ausgelöst bei seinen Zuhörern. Da müssen wir hinkommen.“

Sie sind schon da!“

Ich habe zurückgeschrieben: „Sie hätten mir kein schöneres Kompliment machen können. Danke!“

Ob ich wirklich schon da bin, daran zweifle ich. Aber das, was ich auf dem Weg bislang gelernt habe, möchte ich gern mit anderen teilen. Vielleicht kommen wir zusammen hin.

 

 

Nichts ist wichtiger

„Ich weiss  nichts, niemand ist so dumm wie ich.“
„Sei glücklich,“ sagte der Eremit, „das Höchste was ich bisher erkannt habe, ist: es gibt wahrscheinlich einen Gott. Und über ihm steht das Nichts. Sei willkommen, Meister.“

Diesen Neujahrsgruß verdanke ich meinem Kollegen, dem Schweizer Geschichtenerzähler Martin Niedermann. Ich wünsche euch ein gutes neues Jahr 2013!

Wie man einen Acker bestellt

Einige Gedanken zum ausklingenden und zum neuen Jahr möchte ich gerne mit euch teilen…

Das alte Jahr geht zu Ende. Ein neues Jahr liegt vor uns wie ein Acker. Ungepflügt und unbestellt darauf wartet es darauf, beackert zu werden. Ich stelle mir vor, dass an uns liegt, die vor uns liegende Zeit zu bestellen wie ein Feld, so dass sie Früchte trägt – Früchte des Erfolgs, des Glücks, der Liebe, Früchte eines gelingenden Lebens. Ich stelle mir vor, dass es unsere Aufgabe ist, die Scholle zu wenden, unsere Saat zu säen und die Ernte einzubringen. Es gibt verschiedene Stile, so einen Acker zu bestellen. Man kann ihn tief oder flach pflügen, im Herbst, im Winter oder Frühjahr, mit vielen oder wenigen Pflugscharen drüber fahren oder ihn mit ganz anders geformten modernen Gerätschaften bearbeiten. Wer den Fortschritt ablehnt, muss einen Ochsen anschirren oder sich selber vorspannen, wobei entsprechend leichtes Gerät zu empfehlen wäre. Man könnte auch hingehen und sagen: Das letzte Jahr hat’s mir den Raps und die Gerste verhagelt. Wer weiß, ob sich die Arbeit lohnt? Vielleicht hagelt’s wieder, oder es verregnet mir die Ernte. Ich pflüge dies’ Jahr mal nicht. Da hab ich weniger Arbeit. Ich säe die Frucht gleich in die Disteln und Dornen und was dann aufgeht, das ernte ich dann eben.
Würdet ihr das machen? Wahrscheinlich nicht! Wer wäre denn so doof, ein Feld zu bestellen und es nicht zu pflügen? Wer würde denn die Saat auf Disteln und Quecken zu streuen? Obwohl – man weiß ja nie. Denn viele Menschen nehmen das Unkraut des alten Jahres mit ins neue Jahr und säen Neues darüber, ohne noch einmal drüber zu pflügen. Die Verletzungen vom letzten Jahr lassen sie keimen und wachsen und Früchte tragen. Den Streit von früher lassen sie schwelen, anstatt für eine Klärung zu kämpfen. Die Versäumnisse, die Fehler – die lassen sie auf sich beruhen. Auch dann, wenn ein mutiges Wort, eine freundliche Geste den Weg zur Heilung ebnen könnte. Ein Wort der Entschuldigung… eine Nachfrage: „Ist zwischen uns alles geklärt?“, oder eine Bitte: „Hör mir bitte nochmal in Ruhe zu!“ … eine Forderung: „Ich muss da mit dir drüber reden!“, eine Ansage: „Ich will mich mit dir versöhnen, aber erst muss ich dir sagen, was mich geärgert hat.“ Wo so etwas ausbleibt, werden Beziehungen gefährdet. Die Gründe, zu schweigen sind klar und verständlich: Denn das Alte nochmal umzupflügen ist harte Arbeit. Oft genug muss der Stolz überwunden werden und die Angst vor eigenen Verletzungen. Und es bleibt die Frage: Wie kann man wissen, ob die Mühe sich lohnt?
So säen viele auf ungepflügte Äcker, auf die Disteln des gestrigen Tages, auf die Dornen des vorigen Jahres. Darauf säen sie das Gute, was sie zu geben haben, ihre Bemühung um Gerechtigkeit und Liebe. Sie säen gute Körner auf eine verletzte Beziehung, in den Schmerz und die Kränkung, ohne zuerst den Acker in Ordnung zu bringen. Sie verstehen nicht, warum die gute Saat keine Frucht bringt. Immerhin, sie fahren die Saat noch aus. Es gibt andere, die einen Acker, der sie enttäuscht hat, nie mehr bestellen. Das Unkraut des Anschweigens wuchert dort haushoch. Je höher es wuchert, desto unwirtschaftlicher scheint es, darauf noch einmal zu säen. Mit einem Acker geht man kaum so um, miteinander verfahren viele so. Man lässt das alte Unkraut wuchern, so dass nichts Neues wachsen kann. Aber der Boden muss bestellt werden damit Beziehungen gedeihen. Kränkungen müssen zum Guten gewendet werden. Harte Positionen müssen gelockert werden. Alles Schmollen bringt nichts. Den Trotz muss man selber umwenden, damit auf seiner Rückseite etwas Neues gedeihen kann. Es tut weh, denn noch einmal spürt man die Verletzung. Nur: Das Schweigen muss gebrochen werden, sonst kann nichts Gutes wachsen. Wer Recht hat oder Unrecht – ist das die Frage? Recht haben ist belanglos im Verhältnis zu dem Leid, was dieses Schweigen anrichtet. Was zählt ist, was heilt. Also geht es doch darum, ob man sich in die Position des anderen hineinversetzt oder es wenigstens versucht, ins Gespräch zu kommen und eine neue Sicht zu gewinnen. Diese Art von Arbeit ist hart, und der Ertrag ist so unsicher wie jede Ernte. Und trotzdem: Wer seine Liebe auf fruchtbaren Boden fallen lassen will, muss den harten Boden vergangener Enttäuschungen neu umbrechen und dann von neuem seine Saat ausstreuen. Vor langer Zeit, vor zweieinhalbtausend Jahren, hatte ein Prophet namens Jeremia solche Gedanken. In seinen Worten hat er es so ausgedrückt: „Pflüget ein Neues, und säet nicht unter die Dornen!“

Der Gärtner

Diese Geschichte mag ich sehr! Ich verdanke sie meiner Kollegin Katharina Lamprecht, die sie geschrieben hat und mir erlaubt hat, sie mit euch zu teilen…

Ein alter Gärtner ging abends durch die Straßen seines Dorfes. Da sah er auf einem Müllhaufen einen kleinen, trockenen Weihnachtsstern liegen. Der sah sehr traurig aus, die Blätter hatten, sofern sie noch da waren, kaum noch Farbe und die kleinen Wurzeln hielten sich nur mit Mühe an der trockenen, ausgelaugten Erde fest.

Der Gärtner nahm den kleinen, armseligen Weihnachtsstern in die Hände, besah ihn sich von allen Seiten und sagte zu sich: „ Na, wollen wir doch mal sehen, ob wir dich nicht wieder hochpäppeln können. Ich glaube , du hast mehr Kraft in deinen Wurzeln, als man auf den ersten Blick erkennen kann“.

Er brachte die kleine Pflanze zu sich nach Hause und setzte sie in einen Blumentopf mit guter, fruchtbarer Erde. Liebevoll drückte er die Erde um die kleinen Wurzeln fest und gab ihnen jeden Tag ein wenig Wasser. Die Tage vergingen und der kleine Weihnachtsstern sah noch genauso traurig aus, wie am Anfang. Aber der alte Gärtner war ein geduldiger Mensch und sprach jeden Tag mit seinem Gast, gab ihm Wasser und wartete. Dann plötzlich, als manch anderer den Weihnachtsstern vielleicht schon aufgegeben hätte, zeigten sich an dem kleinen Stamm erste Triebe und nach und nach erschienen neue Blätter. Der Stamm wurde kräftiger und kräftiger und bald konnte der Gärtner den Weihnachtsstern in einen größeren Topf umsetzen. Und er dachte, dass es doch wirklich wunderbar eingerichtet ist, in der Welt, dass aus etwas Kleinem  immer auch etwas wunderschönes Großes, Kräftiges entstehen kann.

Der neugierige Maori

Die folgende Geschichte hat meine Kollegin Katharina Lamprecht verfasst. Die Erzählung hat mir gut gefallen, für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ebenso wie als Beitrag im Gespräch mit Eltern, Lehrern und anderen erziehenden Personen. Ich freue mich, dass ich sie hier veröffentlichen darf…

Wie ihr vielleicht wisst, leben in Neuseeland auch heute noch die Maori – die Ureinwohner. Und sie versuchen, ihre alten Traditionen mit dem modernen Leben zu verknüpfen. Darin sind sie recht erfolgreich. Manchmal aber kommt es zu ungewöhnlichen Situationen und von einer solchen möchte ich euch erzählen.

Auf einem Campingplatz auf der Südinsel, der von den Maori verwaltet wird, gibt es einen Hangi, den alle Gäste des Campingplatzes benutzen dürfen. Ein Hangi  ist ein maorischer Herd und sieht in etwa so aus: in die Erde wird ein rechteckiges Loch gegraben und dann nach oben mit einer Mauer umgeben. In dieses gemauerte Rechteck werden Grillroste eingelassen, auf denen dann Fleisch, Gemüse und Kartoffeln in schönster Eintracht gemeinsam in einem Topf liegen und wunderbarer Weise auch alle zusammen gleichzeitig in dem heißen Dampf, der aus der Erde aufsteigt, gar werden. Und zwar immer genau richtig, nie zu weich oder hart. Bevor man also auf eine Wanderung aufbricht, packt man sein Abendessen in den Hangi und egal, wann man wiederkommt, das Essen ist fertig.

Eine Familie auf dem Campingplatz hatte einen 10 jährigen Sohn, der sehr wissbegierig war und schon zu Hause alles, was ihm unter die Finger gekommen war, über Neuseeland gelesen hatte. Besonders die Maoris hatten es ihm angetan.
Und nun hatte er sich mit der Maorifamilie, die den Campingplatz leitete, angefreundet und diese hatte ihm versprochen, ihn einmal wie einen echten kleinen Maori-Jungen zu kleiden und zu bemalen. Und die Körperbemalung ist bei den  Maories besonders eindrucksvoll.

An dem besagten Verkleidungstag nun wollten seine Eltern einen Ausflug auf das Meer machen, auf den sich der Junge schon lange gefreut hatte. Als sie aufbrechen wollten, konnten sie ihren Sohn aber nicht entdecken. Sie suchten ihn überall und waren schon recht besorgt und auch verärgert. In der Campingküche erfuhren sie, dass der Bengel sich – ohne ein Wort zu sagen – zu der Maori Familie gestohlen hatte. Da beschossen sie, den Ausflug alleine zu unternehmen und ihren Sohn, der sehr enttäuscht darüber sein würde, die Wale und Delfine nicht gesehen zu haben, i n der Obhut der Maoris zu lassen. Er würde schon sehen, was er davon habe.

Als sie abends zurückkamen und am Hangi vorbeigingen, um nach ihrem Essen zu sehen, saß da ein kleiner, einsamer Maori Junge vor dem Ofen. Bei genauerem Hinsehen erkannten sie in ihm ihren Sohn und gingen, ihr Ärger war inzwischen verraucht, mit dem Gedanken, ihn wegen des verpassten Ausflugs trösten zu müssen, zu ihm.
Der kleine Maori blickte auf und ein Strahlen ging über sein Gesicht. „Mama“, rief er, „Papa. Wie gut, dass ihr endlich da seid“.
Seine Mutter wollte ihn tröstend in die Arme schließen aber der Junge war viel zu aufgeregt. „Wo wart ihr denn die ganze Zeit?  Ich habe so viele tolle Sachen erlebt und wollt sie euch erzählen, aber ich habe euch nicht gefunden.  Ich habe ein echtes  Maori Gesicht, seht doch mal,  und war bei den Maories in ihrem großen Gemeindehaus und habe mit ihnen getanzt und ganz komische Lieder gesungen.  Und jetzt sitze ich hier schon eine Weile und schaue dem Hangi beim Arbeiten zu. Das ist echt spannend“.
Kurz versank der kleine Maori wieder in seine Ofenbetrachtungen, dann fragt er seine Eltern nebenbei , „wo wart ihr denn?“

„Ach“, sagten diese, „wir sind nur ein bisschen auf dem Wasser herumgepaddelt“. Über die Wale und Delfine, die sie gesehen hatten, erzählten sich nichts, denn sie fühlten, dass ihr Sohn einen ganz eigenen, wunderbaren Tag erlebt hatte.

Das Leben entquirlen

Die Situation, die ich neulich mit Bezug auf den „Mann in der Hölle“ erzählt habe, enthält eine Intervention, die ich „das Leben entquirlen“ nenne. Ich erinnere mich, dass ichdieses Vorgehen zuerst angewandt hatte bei einer Frau, die in sehr verwickelten Familienverhältnissen ausfewachsen war, seit ihrer Kindheit offenbar ständig latent suizidal war und die immer wieder einem Gemisch von Gewalt und Liebe ausgesetzt gewesen war.

Ich sagte zu ihr, wenn man Erdbeerquark und Jauche mische, werde daraus niemals ein Dessert, auch kein halbes. Das ganze Gemisch sei ungenießbar, auch wenn rechnerisch die Hälfte davon ein Genuss sein müsste. Ebenso verhalte es sich mit einer Mischung aus Liebe und Gewalt. Nun zögen einige daraus den Schluss, dass sie Gewalt in ihrem Leben nicht brauchen und lehnten alles, was sie empfangen haben, einschließlich der Liebe, ab. Andere stellen fest, dass sie ohne Liebe nicht leben können, verharmlosen die Gewalt und tun sich dabei selbst Gewalt an. Vor die Wahl gestellt, das Gemisch zu trinken oder zu verhungern, entscheiden sich die Menschen unterschiedlich. Doch gibt es eine dritte Möglichkeit, die oft übersehen wird.

„Sie können“, so sagte ich der Klientin, „Ihrer Seele Folgendes mitteilen: Eltern und elterliche Personen sind dafür da, die Kinder zu lieben. Das ist ihre Aufgabe, und nichts anderes. Wann immer sie die Kinder lieben, tun sie, was ihre Bestimmung ist. So hat Gott oder die Natur das vorgesehen, und alle Liebe zu den Kindern geschieht zu Recht. Wenn die Eltern und elterlichen Personen Dinge tun, die nicht „Liebe“ sind, wird das von den Kindern oft missverstanden, als hätte das mit ihnen zu tun. Es hat mit ihnen nichts zu tun, sondern damit, dass die Erwachsenen mit anderen Erwachsenen verstrickt sind: Sie sind verwirrt in Bezug auf den Ehepartner und den Liebhaber und dessen Frau, oder sie sind durcheinander in Bezug auf ihr Verhältnis zu ihren Eltern und anderen Leuten aus dieser Generation. Richten Sie also bitte Ihrem Unbewussten bitte einen schönen Gruß von mir aus und teilen Sie ihm mit, dass alles, was Ihre Eltern und deren Generation Ihnen an Liebe gegeben haben, mit Ihnen zu tun hat, für Sie bestimmt ist und bei Ihnen bleiben darf – und alles, was nicht liebevoll war und was Ihnen nicht gut getan hat, hat nichts mit Ihnen zu tun, sondern mit der Verwirrung, die die Erwachsenen untereinander hatten, in ihrer eigenen Generation und vielleicht mit der Generation von deren Eltern.
Teilen Sie Ihrem Unbewussten bitte mit, dass es die Fähigkeit hat, immer feiner und genauer alles zu untersuchen, was Sie erlebt haben und sorgfältig seine nährenden und seine schädlichen Bestandteile zu unterscheiden. Ihr Unbewusstes kann sich alle Zeit nehmen, die es braucht. Es kann Erdbeerquark und Jauche vollständig entquirlen.
Dabei wird es immer wieder auf Erlebnisse stoßen, wo Ihnen Erwachsene etwas gegeben haben, was nicht ‚Liebe’ ist, also auch nicht zu Ihnen, sondern zu denen gehört, von denen es ausging. Ihr Unbewusstes kann diesen Menschen das alles jeweils zurückgeben. Sie können sich bildlich vorstellen, wie sie diesen Menschen das überreichen. Vielleicht werden Sie sagen: ‚Aber die haben es doch auch nicht verdient, sondern haben es selbst durch ein Missverständnis erhalten.’ Dann geben Sie es Ihren Eltern und anderen Personen das ungute Verhalten denen zurück, von denen Sie es bekommen haben, mit der Bitte, es wiederum denen weiter zu geben, von denen sie es erhalten haben, und die können es wieder weiter geben, bis alles an die Orte verteilt ist, von denen es jeweils ursprünglich ausgegangen ist.
Ihr Unbewusstes kann in Ihrem Inneren alles weitergeben an die Orte, von denen es kam und kann es von dort weiterreichen lassen an die Orte, wo es vorher war. Wir tragen viele Abbilder von vielen Menschen in uns. Wir tragen in uns die Bilder unserer Familienangehörigen und der Menschen, die uns und unseren Familienmitgliedern nahe stehen. Und das einzige, was das Unbewusste zu tun braucht, ist, dass alle Kinder, die Sie in sich entdecken, jeweils alle Liebe annehmen und alles, was der Liebe nicht entspricht, zurückreichen durch die Generationen bis in die Vorzeit.“

Ich bat die Frau, mir in einer Woche mitzuteilen, wie es ihr gehe. Sie schrieb, es gehe ihr „sehr, sehr gut“.