Auf einer kleinen Insel mitten im weiten Ozean wuchs eine wunderschöne goldgelbe Blume. Niemand wusste, wie sie dort hingekommen war, denn es gab sonst keine Blumen auf dieser Insel. Die Möwen kamen angeflogen, um dieses Wunder zu bestaunen. „Sie ist schön wie die Sonne“, sagten sie. Die Fische kamen angeschwommen. Sie schauten aus dem Wasser, um sie zu bewundern. „Sie ist schön wie eine Koralle“, sagten sie. Ein Krebs kam an Land, um sie zu betrachten. „Sie ist schön wie eine Perle am Meeresgrund“, sagte er. Und sie kamen fast jeden Tag, um diese Blume zu bewundern.
Eines Tages, als sie wieder kamen, um nach der Blume zu schauen, fanden sie die goldenen Blätter der Blume braun und vertrocknet. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Die Sonne hat unsere Blume versengt. Wer soll jetzt unser Herz erfrischen?“ Und alle waren traurig.
Doch einige Tage später war da an der Stelle der Blüte eine wunderbare zartweiße Kugel. „Was ist das?“, fragten die Tiere. „Es ist so weich wie eine Wolke“, sagten die Möwen. „Es ist so leicht wie die Gischt“, sagten die Fische. „Es ist so fein wie der Schimmer der Sonne im Sand“, sagte der Krebs. Und alle Tiere freuten sich.
Da fegte ein Windstoß über die Insel und wehte dieses weiße Wunder in tausend kleinen Flocken fort über die Insel. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Der Wind hat unsere Kugel verweht. Was soll jetzt unser Gemüt erfreuen?“ Und alle waren traurig.
Eines Morgens, als die Sonne über dem Meer aufging, leuchteten da im goldenen Morgenlicht hunderte und nochmals hunderte von wunderschönen goldgelben Blumen. Da tanzten die Möwen am Himmel und die Fische im Wasser, und der Krebs tanzte mit seinen Freunden einen Reigen zwischen den Blumen, und alle freuten sich.
Archiv der Kategorie: Liebe
Worte Epikurs II
Wer sich nicht an das Gute erinnert, das ihm geworden ist, ist heute schon ein Greis geworden.
Die Karre, der Dreck und ich
Als ich die Karre in den Dreck steuerte, sagte ich: „Jetzt ist sowieso nichts mehr zu machen.“ Ich wartete ab, was nun passieren würde. Als ich die Karre in den Dreck gefahren hatte, sagte ich: „Jetzt ist sowieso nichts mehr zu machen.“ Ich wartete ab, was nun passieren würde. Als die Karre mit mir im Dreck versank, sagte ich: „Jetzt ist sowieso nichts mehr zu machen.“ Ich wartete ab, was nun passieren würde. Als die Karre mit mir im Dreck verschwunden war, wusste ich, was ich schon immer gewusst hatte.
Balance
„Mit dir zu wippen, ist langweilig“, sagte die Ameise zum Elefanten.
Worte Epikurs I
„Man soll nicht das Vorhandene beschmutzen durch die Begierde nach dem Nichtvorhandenen, sondern bedenken, daß auch das Vorhandene zu dem Wünschenswerten gehörte.“
Gnädig
Wir unterhielten uns über Musik. „Das Ohr ist gnädig“, sagte sie. „Es hört das, was gemeint ist und nicht das, was tatsächlich gespielt wird.“ Die Dame, die das sagte, war Klavierlehrerin. Seit Jahrzehnten unterrichtete sie Schüler und hatte sich ihre Gedanken gemacht, wie Ohr und Gehirn die Musik verarbeiten. „Das Ohr ist gnädig“, wiederholte ich. „Wie meinen Sie das?“ Sie sagte: „Wenn wir als Publikum Musik hören, blenden wir meistens die Fehler aus. Wir hören, was gemeint ist. Was im Bewusstsein ankommt, ist dann die vollkommene Melodie. Die Künstler und die Lehrer achten auf die Fehler, aber das Publikum hört die Musik.“
Ich erzähle diese Geschichte Menschen, die sich selbst oder anderen nicht leicht verzeihen, Perfektionisten der Ästhetik, des Wissens, des Erfolgs und der Moral wie überhaupt Menschen, die auf das Fehlende leichter als auf das Erreichte schauen.
Rote Rosen
Sie war geschieden. Sie erzählte mir: „Unsere ganze Ehe lang hat mir mein Mann rote Rosen gebracht. Ich habe ihm nie erzählt, dass die schönsten Rosen für mich crèmeweiße sind. Ich dachte immer: Wenn er mich wirklich liebt, dann wird er es von selbst bemerken.“
(Stefan Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 67)
Brombeeren pflücken
Als Kind half ich oft meinen Eltern im Garten. Ich erinnere mich, wie mein Vater mich anwies, Brombeeren zu ernten: „Nimm eine Brombeere in die Hand und zupfe ein bisschen daran. Nicht fest, nur ganz leicht. Wenn sie reif ist, fällt sie dir von selbst in die Hand. Wenn sie nicht von selbst abgeht, lass sie los. Sie schmeckt noch sauer.“
Die Brombeeren-Geschichte erzähle ich Menschen, die wegen einer anstehenden Entscheidung hin- und hergerissen sind: Eine Partnerschaft zu beginnen, eine berufliche Veränderung anzugehen oder sonst etwas Neues anzufangen. Oder Leuten, die mit aller Kraft etwas erreichen wollen, was nicht – oder nicht allein – in ihrer Macht steht.
Die Geschichte von den Brombeeren stammt aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“ (S. 64). Sie findet sich auch im Hörbuch „Der Grashalm in der Wüste – Die Taggeschichten.“ Eine Audiodatei der Brombeerengeschichte aus dem Hörbuch ist hier kostenlos downloadbar.
Einander verstehen
Ich hatte heute eine Paartherapie. Ein Techniker und eine Versicherungsangestellte wollten gerne, dass ich ihnen helfe, einander zu verstehen. Ich erklärte ihnen, dass Menschen einander nicht verstehen können, schon gar nicht Männer und Frauen. „Ich verstehe“, sagte der Techniker. Wir brauchen einen Converter von meiner Sprache in die Sprache meiner Frau. „Sie illustrieren das, was ich sagen will, sehr anschaulich“, habe ich erwidert, „was ist ein Converter?“
Das Reihel
Bernhard liebte es, ein ganzes Wochenende lang allein durchs Gebirge zu wandern und in den Schlafsack eingerollt in einer Schutzhütte zu übernachten. Seine Freundin war häuslich und liebte romantische Abende bei Kerzenschein. Sie wollte ihn gerne heiraten. Ihm machte es Angst, sich endgültig festzulegen. Sie wollte möglichst bald Kinder bekommen. Ihn überforderte schon der Gedanke daran. Aber trennen wollten sich beide auf keinen Fall. „Wir sind in der Sackgasse“, stellte er in einem Telefongespräch resigniert fest. Ich wollte das weder so stehen lassen, noch konnte ich hoffen, dass mein bloßes Widersprechen ihm weiterhelfen würde. Was tun? Weiterlesen