Selber atmen

„Einmal hat es bei uns auf der Intensivstation gebrannt“, erzählte mir eine Krankenschwester. „Wir mussten alle Patienten evakuieren. Die meisten beatmungspflichtigen Patienten waren an mobilen Geräten angeschlossen, aber eine Patientin hing an einem Beatmungsgerät, das
in der Wand verankert war. Die Frau war bei Bewusstsein, also sprach ich sie an: ‚Wir gehen jetzt hier raus. Ich mache die Beatmungs-schläuche ab. Sie müssen jetzt selber atmen.‘ Ich zog die Schläuche heraus, und wir schoben das Bett aus der Station. Drei Minuten später waren wir auf einer anderen Station mit Beatmungs-möglichkeit. Wir wollten die Frau wieder anschließen, aber das brauchten wir nicht mehr. Die Frau atmete in vollen Zügen.“

Die Seefrau an Land

Diese Geschichte habe ich in der Therapie verwendet bei Leuten, die einen organisch nicht erklärbaren Schwindel hatten.(Anhaltenden Schwindel immer ärztlich abklären lassen!) Das Bild ist auch geeignet für die Therapie von Menschen in manchen Mobbing- oder Verlustsituationen und in anderen Therapien zum Thema Identitätsfindung (etwa im Umfeld von Beratungen zu Selbstsicherheit, Traumaerfahrungen und bei Borderline-Diagnosen).

„Ich komme gerade von einem fünftägigen Segeltörn“, erzählte die Frau. „Mein Kopf gaukelt mir vor, ich wäre noch auf dem Schiff. Alles hier schaukelt und schwankt.“ „Ich war einmal in einem Schiffsmuseum“, antwortete der Mann. „Sie hatten dort eine Halterung für Kerzen, so dass sie selbst auf hoher See stets aufrecht stehen bleiben. Die Halterung besteht aus drei ineinander gefügten Ringen, die miteinander verbunden sind, so dass jeder innerhalb des anderen frei drehbar ist. Der äußere Ring, der an einer Kette hängt, ist senkrecht befestigt, der mittlere des gleichen, jedoch in rechtem Winkel quer zu ihm. Der innere Ring darin liegt waagerecht. In ihm befindet sich der Kerzenhalter, mit seinem Schwerpunkt unterhalb des Rings. Gleich, wie das Schiff nun schwankt, bewegen  sich die Ringe so, dass ihre Kerze aufrecht bleibt.“ „Jetzt ist der Schwindel weg“, sagte die Frau.

Geschwistertherapie

Eine Mutter wollte ihren Sohn in Therapie bringen, weil er bei den häufigen Streitigkeiten mit seiner Schwester diese regelmäßig blutig kratzte. Auch gegenüber der Mutter sei er ungehorsam, fühle sich regelmäßig im Unrecht, beschimpfe sie mit groben Worten und versuche sie zu schlagen. Der Junge ginge in den Kindergarten, seine Schwester in die erste Klasse. Auch im Kindergarten sei der Junge aggressiv und habe daher wenige Freunde, obwohl die Erzieherinnen und die Kinder sich lange bemüht hätten, ihn zu integrieren. Der Vater der Kinder sei meistens beruflich unterwegs, die Mutter fühle sich mit dem schwer zu kontrollierenden Jungen überfordert.

Ich bat die Mutter darum, zur ersten Stunde beide Kinder zur Therapie mitzubringen. Ich ließ die Kinder erklären, auf welche Arten und aus welchen Anlässen sie sich stritten. Zur zweiten Stunde bat ich die Mutter, nur die Tochter mitzubringen. Ich fragte das Mädchen: „Was meinst du? Wenn du es wirklich wolltest – auch wenn du sonst vielleicht gar nicht so bist – würdest du es irgendwie hinkriegen, deinen Bruder richtig auf die Palme zu kriegen?“ „Na klar!“ „Echt? Das kriegst du hin? Wie würdest du das denn schaffen?“ „Ach, zum Beispiel würde ich ihm so eine Grimasse machen… und dann würde ich so gucken… und dann würde ich ihm die Zunge rausstrecken…“ „Und das funktioniert?“ „Ja, das klappt gut! Und dann würde ich ihm die Zunge rausstrecken…“ „Toll… und was könntest du machen, angenommen du wolltest tatsächlich einmal, dass er dich blutig kratzt?“ „Das geht ganz leicht. Da kann ich solche Gesichter machen, oder ich kann ihm seine Malstifte verstecken.“ „Toll! Könntest du sonst noch irgendetwas machen, wenn du ihn wirklich einmal so weit bringen wolltest, dass er dich kratzt?“ „Ach, da gibt es ganz viele Möglichkeiten. Ich kann ihn zum Beispiel ‚Arschgesicht‘ nennen oder ihm meinen Hintern zeigen, oder kann ihm sagen, dass er dumm ist…“

Ich fragte noch eine Weile weiter, während die Mutter mit großen Augen daneben saß und ihre Tochter aus dem Nähkästchen plaudern hörte. Schließlich gab ich den Versuch auf, mir alle Methoden nennen zu lassen; es kam kein Ende in Sicht. „Müsste deine Mutter das mitkriegen, wenn du das machst, oder könntest du es auch so hinkriegen, dass sie gar nichts davon bemerkt?“ „Das mache ich ja im Kinderzimmer, da ist die nicht.“ „Und was passiert dann?“ „Dann läuft mein Bruder in die Küche und heult, und meine Mutter fragt was passiert ist.“ „Und dann sieht sie deine zerkratzten Arme, und du sagst, du hast nichts gemacht.“ „Ja“, sagte das Mädchen etwas leiser. „Ist das schön, wenn dein Bruder bestraft wird und du nicht?“ „Klar“, sagte sie. Ihre Augen leuchteten.

Ich bat die Mutter, im Fall von Streitigkeiten zwischen den Kindern zukünftig immer beide oder keinen zu bestrafen. Vielleicht sei das manchmal ungerecht gegenüber dem Mädchen, aber der Junge habe schon zu viele Strafen zu Unrecht bekommen. Im Schnitt sei so jedenfalls mehr Gerechtigkeit zu erreichen.

In der folgenden Stunde ließ ich den Jungen allein kommen. Ich erzählte ihm die Geschichte von Gregor, dem Drachen.

In der dritten Stunde ließ ich das Mädchen wieder kommen. Ich leiß sie Stofftiere aussuchen jeweils für ihren Bruder, für ihre Mutter, für ihren Vater und für sich, außerdem eines für „den Ärgerer, der sich freut, wenn es den anderen schlecht geht“. Ich ließ sie die Familienfiguren aufstellen. Den Ärgerer nahm ich selbst. Ich erzählte dem Mädchen, dass sich der Ärgerer freut, wenn die Familie nicht zusammenhält, und dass er denkt, das bestimmt kein Tier hilft, wenn er ihre Mutter angreift. Und ich ließ den Ärgerer das Tier angreifen, das ihre Mutter darstellte. Natürlich wurde der Ärgerer in die Flucht geschlagen und war ziemlich enttäuscht. Doch er berappelte sich und versuchte Vater und dann sie selbst anzugreifen. Jedesmal zog er den kürzen. Dann sagte der Ärgerer: „Ihren Bruder hat sie ja selbst oft geärgert. Den wird sie bestimmt nicht beschützen. Zu ihm hält sie bestimmt nicht, wenn ich ihn angreife.“ Doch wieder wurde er aufs Schlimmste zurückgeschlagen. Der Ärgerer redete das Tier an, das sie selbst darstellte und versuchte ihm mit vielen Listen zu erklären, dass ihr Bruder doch doof sei, und man ihn ärgern dürfe, ja, dass er ihr doch nur helfen wolle, ihn zu ärgern, und dass sie doch gemeinsam viel Spaß haben könnten. Doch auf keine dieser Listen fiel das Schwester-Tier herein. Der Ärgerer versuchte es auf alle Weisen, doch es zeigte sich, dass alle in der Familie zusammenhielten, und auch die Schwester ihren Bruder in jeder erdenklichen Weise unterstützte. Enttäuscht und gedemütigt musste der Ärgerer schließlich abziehen. Das Mädchen aber baute aus Seilen zwischen den Möbeln des Therapiezimmers ein Familiennetz, durch das kein Ärgerer jemals wieder eindringen konnte.

In der vierten Therapiestunde ließ ich nochmals die Mutter und den Sohn kommen. Ich ließ den Jungen mit zwei Seilen zwei Länder auf den Boden legen. Das Land des Ärgerns und – was wäre das Gegenteil? „Das Land des Schmusens“ meinte der Junge. Ich ließ ihn einige Tiere aussuchen, die im Land des Ärgerns lebten und andere, die im Land des Schmusens Lebten, und er legte sie in die jeweiligen, mit den Seilen markierten Zonen.

„Was machen denn die Tiere im Ärgerland alles miteinander?“, fragte ich den Jungen. „Und was machen die Tiere im Schmuseland?“ Dann wollte ich wissen: „In welchem Land sind die Tiere wohl glücklicher?“ Mich interessierte: „Meinst du, dass die Tiere aus dem Land des Ärgerns in das Land des Schmusens kommen wollen, oder wollen eher die Tiere aus dem Schmuseland ins Ärgerland hinüber?“ Es gab, wie erwartet, eine einseitige Emigrationstendenz. Ich fragte weiter: „Aber die Tiere aus dem Schmuseland werden die Tiere aus dem Ärgerland ja sicher nur hereinlassen, wenn die Tiere aus dem Ärgerland es hinkriegen, sich so zu verhalten, dass sie zu den Schmuse-Tieren passen, oder?“ Und dann: „Was machen denn diejenigen Tiere, die ins Schmuseland hereingelassen werden, in das alle Tiere aus dem Ärgerland gerne hineinwollen? Und wie kriegen sie das hin? Und was können sie noch alles tun, um hineinzudürfen? Und was machen sie alles dort, um da bleiben zu dürfen und nie wieder herausgeschmissen zu werden? Und wer darf alles jetzt schon rein ins Schmuseland, weil er schon gelernt hat, das so zu machen? Und was meinst du, wer darf als nächstes?“ Und immer mehr Tiere durften aus dem Ärgerland ins Schmuseland hinüber, weil sie es gelernt hatten, wie Schmusetiere zu leben. Schließlich stritten sich im Ärgerland nur noch ganz wenige, und bald danach war das Ärgerland leer.

Nach der vierten Sitzung rief die Mutter der beiden Kinder an, dass kein weiterer Therapiebedarf bestehe, weil sich die Probleme in der Familie wie auch im Kindergarten weitestgehend aufgelöst hätten.

Streichelpädagogik

Beim Weitergehen finde ich ein Schild mit der Aufschrift:

„Man kann in ein Kind nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“ (Astrid Lindgren)

So viele Türen mit so vielen Botschaften… Sehr gerne möchte ich mich unterhalten mit den Menschen, die dahinter wohnen. Nun frage ich euch: Welche Botschaft könnte an eurer Tür zu lesen sein…?

Was man mit Liebe betrachtet…

Momentan halte ich gerade ein Seminar im Milton-Erickson-Institut Heidelberg. Während die anderen arbeiten und in den Seminarpausen wandere ich über den Flur und durch die Institutsräume.

An den Türen finde ich Schilder und Zettel. Darauf stehen Sätze, die es wert sind, ins Herz genommen zu werden. Zum Beispiel dieser…

„Alles, was man mit Liebe betrachtet,  ist schön.“ (Christian Morgenstern)

Patchwork

Annetta Hammel mit Crazy Quilt in Violett und Grün
Diese Woche hatte ich eine russische Klientin in Therapie. Sie war aus Sibirien hierhergezogen, hatte ihr Kind aus erster Ehe mitgebracht und einen Deutschen geheiratet, der bereits zwei Kinder, ebenfalls aus erster Ehe, hatte. Gemeinsam hatten sie ein weiteres Kind, und inzwischen war eines der Kinder ihres Mannes wieder bei seiner Mutter eingezogen. Die Frau hatte in Deutschland trotz jahrelanger Bemühungen keinen rechten Anschluss gefunden. Sie hatte keine Freunde und keinen Ort, der ihr Heimat bot. So hatte sie sich immer mehr zurückgezogen, war verzagt und depressiv geworden. „Wenn mein Mann nicht wäre, würde ich zurück nach Russland gehen. Aber er ist ein sehr guter Mensch. Er liebt mich, und ich verlasse ihn nicht.“ Wir besprachen ihre Situation und überlegten Möglichkeiten der Veränderung. Beim Verabschieden blieb sie an meinen Wandbehängen stehen. „Das sind Quiltdecken“, erklärte ich. „Meine Mutter ist Amerikanerin. Das ist eine amerikanische Tradition. Man sagt auch Patchwork dazu. Wissen Sie, was eine Patchworkfamilie ist?“ Die Frau schwieg und lächelte. „Das hier ist Patchwork. So schön können Flicken sein. Das ist Patchwork. So ist das Leben.“

Lesenswert: Der Findefuchs

Irina Korschunow hat das Kinderbuch geschrieben, ich glaube vor allem für Patchwork-, Stief- und Adoptivkinder und für die Geschwister von Adoptivkindern. Es heißt „Der Findefuchs – Wie der kleine Fuchs eine Mutter bekam“. Es ist, ehrlich gesagt, auch eine Geschichte für Erwachsene, eine, die ans Herz geht. Sie ist ganz kurz; man kann sie gut am Anfang oder Schluss einer Kindertherapiestunde vorlesen. Sie ist auch geeignet, um Pflegeeltern Mut zu machen im Kampf mit nervigen Behörden, Verwandten, Nachbarn und im Umgang mit Streitigkeiten zwischen den untereinander nicht verwandten Kindern. Die Erzählung stärkt das Empfinden für Zusammengehörigkeit bei Kindern und zeigt, dass Liebe zu einem Kind nicht unbedingt an Blutsverwandtschaft gebunden ist.

Die Geschichte geht so: Eine Füchsin findet ein verlassenes Fuchskind im Gebüsch und trägt es unter vielen Gefahren in ihren Fuchsbau zu ihren drei eigenen Fuchskindern. Die Nachbarfüchsin rät ihr, das Kind wieder auszusetzen. Als die Füchsin am nächsten Tag ihre vier Kinder beschnüffelt, kann sie den Findefuchs nicht mehr herausschnüffeln. Er riecht schon genauso wie die anderen.

Ein ausgezeichnetes Buch mit sehr schönen Bildern!

Irina Koschunow, Der Findefuchs: Wie der kleine Fuchs eine Mutter bekam. Mit Bildern von Reinhard Michl
München (dtv) 1982

Lesenswert: Die Geschichten vom Verlorenen…

Im 15. Kapitel des Lukasevangeliums stehen drei sehr eindrucksvolle therapeutische Geschichten. Sie handeln von verlorenen und wiedergefundenen Schafen, Groschen und Söhnen.

Die Geschichte vom Schaf, das ein Hirte verloren, gesucht und wiedergefunden hat, kann man gut Kindern erzählen in einem Adoptiv- oder Patchworkkontext, in einer getrennten Familie, oder wo es um das Sterben eines Familienangehörigen geht. Sie vermittelt ein starkes Gefühl von eingebunden und aufgehoben sein, in Krisen beschützt werden, wertvoll und geliebt sein.

Die Geschichte vom Groschen, den eine arme Frau verloren, gesucht und wiedergefunden hat, kann man beispielsweise Kindern mit knappem Taschengeld erzählen, um zu sagen: Ich glaube, du bist für deinen abwesenden Vater (oder gestorbenen Opa) viel wertvoller als alles Geld der Welt.

Die dritte Geschichte handelt von zwei Brüdern. Der eine ist pubertätsfrei brav und macht seinem Vater wenig Scherereien. Der andere liebt Abenteuer, ruiniert sich, schadet seiner Familie und sucht schließlich den Rückweg in ein normales Leben. Anschließend werden die Interaktionen in der Familie beobachtet – mit überraschenden Ergebnissen. Diese Geschichte hat ein Berater Drogenabhängigen vorgelesen, die zu ihm kamen. Er hat nicht gesagt, woher die Geschichte kommt, er hat sie nur vorgelesen. Danach war eine ehrliche Gesprächsbasis da. Einige haben geweint. Die Geschichte fasst die ganze Sch… eines versauten Lebens zusammen und die Sehnsucht nach Liebe, die am Ende bleibt.

Die Geschichte vom verlorenen Schaf ist für mich der Ausgangspunkt des Geschichtenerzählens überhaupt gewesen. Mein Großvater hat sie mir viele Male erzählt. Ich wollte sie immer wieder hören. Vielleicht, weil wir beide Hammel hießen, wahrscheinlich aber, weil ich mich verloren gefühlt habe und mir die Geschichte Kraft gegeben hat. Sie geht so:

Stellt euch vor, einer von euch hat hundert Schafe und eines davon verläuft sich. Lässt er dann nicht die neunundneunzig allein in der Steppe weitergrasen und sucht das verlorene so lange, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, dann freut er sich, nimmt es auf die Schultern und trägt es nach Hause. Dort ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, ich habe mein verlorenes Schaf wiedergefunden! (Lukas 15,4-6. Die Gute Nachricht Bibel)

Alle drei Geschichten sind gut geeignet beim Thema ADS und ADHS. Am besten baut man die Geschichte blumig und dornig aus und erzählt, wo der Hirte überall gesucht und gerufen hat, bis er irgendwo im Dickicht ein verzagtes „Mäh“ gehört hat.

Wer die Geschichten von Schafen, Groschen und Leuten anderen vorliest, nimmt eine moderne Übersetzung und gegebenenfalls eine Kinderbibel. Lukas ist das dritte Buch im Neuen Testament.

Gute Nachricht Bibel
Stuttgart (Deutsche Bibelgesellschaft) 2006