Von Oase zu Oase

Wenn die Beduinen auf ihren Kamelen von Oase zu Oase ziehen, dann freuen sie sich beim Aufbruch von einem grünen Ort schon auf die Ankunft beim nächsten grünen Flecken. Ein europäischer Reisender wurde einmal an einem Treffpunkt zwischen zwei Oasen zu ihnen gebracht. Er reiste einige Tage mit ihnen. Der Europäer ritt von Wüste zu Wüste und durchquerte auf dem Weg gelegentlich eine Oase. Ihn begleiteten die Sehnsucht nach Schatten und Wasser. Er bewunderte die Beduinen. Sie reiten von Oase zu Oase. Gelassenheit zeichnet sie aus. Die Freude auf die nächste Oase ist ihre stete Begleiterin auf dem Weg durch die Wüste.

Der Nagel

Als der Umzug bewältigt ist, schaue ich noch einmal zum Abschied durch all die leeren Räume. Im Schlafzimmer bleibe ich stehen und stutze. Da, wo vorher das Kopfende des Bettes gewesen ist, da starrt mich tatsächlich aus der Wand ein Nagel an. So will ich die Wohnung nicht übergeben. Den Nagel will ich schon entfernen. Doch die Wohnung ist leer, und ich habe keine Zange zur Hand. Ich gehe hin und ziehe an dem Nagel. Nichts geschieht. Ich rüttele daran. Nichts geschieht. Wirklich gar nichts? Zumindest scheinbar nichts. In meinem Kopf nämlich geschieht etwas: Ich beginne darüber nachzudenken, wie lange ich an diesem Nagel würde rütteln müssen, bis er, anstatt nach vorne, sich immerhin seitwärts bewegen würde. Tage, Monate, Jahre? So lange nicht! Ich tue nun so, als ob ich diesen Nagel seitlich bewegte, hin und her, hin und her. Ich brauche eine ganze Weile, eine Viertelstunde ungefähr. Dann meine ich eine kleine seitliche Veränderung wahrzunehmen. Nach einer weiteren Viertelstunde des seitlichen Bewegens bewegt sich der Nagel ganz deutlich zur Seite. Nach einer weiteren Viertelstunde macht er seinen ersten kleinen Ruck nach vorne. Nach einer Stunde habe ich ihn in der Hand. Er ist draußen. Ich nehme Spachtelmasse und verschließe das Loch.

Die Geschichte erzähle ich, um langjährige chronische körperliche, seelische oder soziale Symptome anzulösen. Sie dient dazu, selbst Nicht-Veränderung bzw. mikroskopische, noch nicht wahrnehmbare Verändrungen als den Beginn einer größeren Veränderung plausibel zu machen, die Zähigkeit der Klienten im Trainieren und Erhoffen von Veränderung zu erhöhen. Die Geschichte ist beispielsweise nützlich in der Schlaganfalltherapie und in der Therapie von Migräne.

Grashalm-Geschichten im Onlinemagazin KidsLife

Das Elternmagazin „KidsLife“ (Aufl. 255.000 in D, A, CH) hat in seine Online-Ausgabe seit Herbst 2007 die Sparte „Die therapeutische Geschichte“ übernommen. Darin wird regelmäßig eine Geschichte aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“, aus HYPS oder frisch aus dem PC des Verfassers präsentiert. Die Geschichten für Eltern und Kinder sind zu finden unter www.kidslife-magazin.de.

Erickson-Geschichten XI (Tinnitus und Stille)

Erickson erzählt: Ich gebe dir eine Geschichte, damit du es besser verstehst… wir lernen nämlich Dinge auf eine sehr ungewöhnliche Art, auf eine Art, von der wir nichts wissen. In meinem ersten Collegejahr kam ich an einer Kesselfabrik vorbei. Die Arbeiter waren an zwölf Kesseln gleichzeitig beschäftigt, und sie waren in drei Schichten eingeteilt. Und diese pneumatischen Hämmer schlugen unablässig auf das Metall und trieben Nieten in die Kessel. Ich hörte den Lärm und wollte herausfinden, was es war. Nachdem ich erfuhr, dass es eine Kesselfabrik war, ging ich hinein und konnte darin niemanden reden hören. Ich konnte sehen, wie die verschiedenen Angestellten Gespräche führten. Ich konnte sehen, wie sich die Lippen des Vorarbeiters bewegten, aber ich konnte nicht hören, was er zu mir sagte. Er hörte, was ich sagte. Ich bat ihn nach draußen, damit ich mit ihm reden könnte. Und ich bat ihn um Erlaubnis, meine Decke mitzubringen und dort für eine Nacht auf dem Boden zu schlafen. Er dachte, mit mir stimmt etwas nicht. Ich erklärte, Weiterlesen

Ich werde hundertfünfzig Jahre alt

Herzlichen Glückwunsch, Johannes Heesters!

Der Schauspieler feiert heute seinen 104. Geburtstag. Schon komisch, wenn ein Mensch, der immer wieder gesungen hat „Ich werde hundert Jahre alt“ und nach dem Krieg bei dem Theaterstück „Der 106. Geburtstag“ mitgespielt hat, sein hundertfünftes Lebensjahr antritt. Besteht da ein Zusammenhang?

Aktuell hat Heesters erklärt, zu seinen „zehn wichtigsten Wünschen“ zähle, „dass ich wieder Theater spiele, am liebsten das Stück ‚Der 106. Geburtstag'“ und „dass ich meinen 105. Geburtstag feiere, und wenn es 110 würden, wär‘ das auch nicht schlecht“.

Sicher ist die Überzeugung, hundert zu werden, keine Garantie dafür, dass man das tatsächlich erlebt. Ich kannte einen Mann, der auch angekündigt hat, hundert zu werden, und der dann schon mit siebenundachtzig gestorben ist.

Andererseits: Einige Forscher wollten gerne wissen, warum die Lachse nach dem Laichen sterben. Sie fischten eine Anzahl der Tiere aus dem Fluss, versahen sie mit einem Sender und setzten sie zurück ins Meer. Siehe da: Die Tiere lebten munter weiter. Längere Lebenerwartung dank der Erwartung längeren Lebens.

Vieles spricht dafür: Wenn alle erwarten würden, länger zu leben, würden einige tatsächlich länger leben. Darum, ihr Lieben, sag ich’s allen: Ich werde hundertfünfzig Jahre alt…

Erickson-Geschichten X

Erickson erzählt: Im Juni 1919 machte ich meinen Abschluss an der High School. Im August hörte ich, wie im Nebenzimmer drei Ärzte zu meiner Mutter sagten: „Der Junge wird den Morgen nicht erleben.“ (Erickson hatte seine erste Polioinfektion im Alter von siebzehn Jahren.) Da ich ein normales Kind war, nahm ich das übel. Unser Landarzt hatte zwei Ärzte aus Chicago hinzugezogen, und sie sagten zu meiner Mutter: „Der Junge wird den Morgen nicht mehr erleben.“ Ich war wütend. Dieser Einfall, einer Mutter zu erzählen, ihr Sohn würde am nächsten Morgen tot sein! Das ist unerhört! Später kam meine Mutter mit ausdruckslosem Gesicht in mein Zimmer. Sie glaubte, ich sei im Delirium, da ich darauf bestand, dass sie die große Kommode in meinem Zimmer umstellte, damit sie in einem anderen Winkel zu meinem Bett stand. Sie stellte sie neben mein Bett und ich sagte ihr, wie sie sie hin- und herrücken sollte, bis ich zufrieden war. Die Kommode verstellte mir den Blick durch das Fenster – und ich wollte verdammt noch mal nicht sterben, ohne den Sonnenaufgang zu sehen. Ich sah nur die Hälfte davon. Ich war drei Tage lang bewusstlos. Meiner Mutter habe ich nichts davon erzählt. Und auch sie hat mir nichts davon erzählt. (Rosen, 61f.)

Bürgerkrieg und Bürgerfrieden

Diese Geschichte erzähle ich vorwiegend in der Therapie bei Allergien, Entzündungen und Autoimmunerkrankungen.

In Pampelonien gab es einstmals einen Bürgerkrieg. Und das kam so: Eines Abends hörten die Wächter auf der königlichen Burg Schüsse aus der Ferne. Am Horizont im Westen sahen sie eine Rauchsäule aufsteigen. „Revolution!“ riefen sie. „Das Land ist in Gefahr!“ Eine Einheit der königlichen Armee bewaffnete sich, sattelte ihre Pferde und ritt los. Sie folgten der Richtung der Rauchsäule. Der Weg führte sie in einen großen, tiefen Wald. Es war schon dunkel, als sie in der Gegend eintrafen, wo die Schüsse ertönt waren. Schließlich sahen sie auf einer Waldlichtung Weiterlesen

Lautstärkeregler

Sie liebte es, in die Disco zu gehen. Wenn ihre Eltern sie abholten, wunderten sie sich jedes Mal: „Wie kannst du es aushalten bei dem Krach?“ Doch sie wusste: Laut ist die Musik nur am Anfang. Schon bald ist das Laute nicht mehr laut. Das Ohr stellt die Lautstärke nach.
Sie liebte es, abends im Bett noch leise Radio zu hören. Zwar hatten ihr die Eltern das verboten, wenn sie am nächsten Tag Schule hatte, doch stellte sie das Radio so leise ein, dass sie fast nichts mehr hörte. Sie wusste: Leise ist die Musik nur am Anfang. Schon bald ist das Leise nicht mehr leise. Noch mehrere Male kann sie das Radio noch leiser stellen, und immer noch hört sie alles genau. Denn das Ohr stellt die Lautstärke nach.

Erickson-Geschichten IV

Erickson erzählt: Als meine Tochter Kristi Medizin studierte, las sie einen Aufsatz von Ernest Rossi und mir über Doppelbindung. Sie kam zu uns und sagte: „Also, so mache ich es!“ Rossi fragte: „Was machst du so?“ Sie sagte: „Jeder Patient hat das Recht, Bruchuntersuchungen und vaginale oder rektale Untersuchungen durch einen Medizinstudenten zu verweigern. Keine von den anderen Studentinnen hat solche Untersuchungen gemacht, aber ich habe bei jedem meiner Patienten eine Bruchuntersuchung sowie eine vaginale oder rektale Untersuchung durchgeführt.“ Ich fragte sie, wie sie das mache, da doch alle Patienten das Recht hätten, diese Untersuchungen zu verweigern. Sie sagte: „Wenn ich zu diesem Teil der Untersuchung kamm, lächelte ich freundlich und sagte sehr mitfühlend: ‚Ich weiß, Sie haben es satt, dass ich Ihnen in die Augen sehe und in die Ohren und in die Nase und in den Hals, Sie hier betaste und dort abklopfe. Sobald ich jetzt die rektale Untersuchung und die Bruchuntersuchung durchgeführt habe, können Sie mir Auf Wiedersehen sagen.‘ “ Und alle warteten geduldig, bis sie ihr Auf Wiedersehen sagen konnten. (Rosen, 107f.)

Das Worfeln

In Ländern, wo ein kräftiger Wind über das Land fegt und die Felder fruchtbar macht, gibt es unter den Bauern einen Brauch, den man das Worfeln nennt. Jedes Jahr nach der Ernte, wenn sie das Korn gedroschen haben, bringen sie es nach draußen vor die Scheune. Sie werfen das Getreide gemeinsam in die Luft. Die guten, schweren Kerne fallen dann nach unten, während die leichte Spreu vom Wind davon getragen wird. Die schwerste Arbeit dabei macht der Wind. Wer weiß, ob man nicht auch Gedanken worfeln kann?

Die Geschichte aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“ verwende ich, wenn jemand seine Gedanken ordnen möchte, seine Konzentration oder Gedächtnisleistung optimieren will oder wenn sich jemand mit einer gedanklichen bzw. emotionalen Aufgabe schwer tut.