Der Karteischrank

Ich hatte früher in meinem Büro einen Karteischrank mit vielen Schubladen. Als ich meinen Karteischrank kennenlernte, dachte ich zuerst, etwas an ihm sei kaputt: Es war nicht möglich, zwei seiner Schubladen gleichzeitig zu öffnen. War eine Lade herausgezogen, so waren alle anderen verschlossen. Sie ließen sich rütteln, aber öffnen ließen sie sich nicht. So lange, bis die Schublade zurückgeschoben hatte; dann konnte ich eine andere Lade herausziehen.

Wenn ich Menschen begegne, die sich mit vielen Problemen gleichzeitig beschäftigen, mit so vielen Problemen, dass sie sich davon überfordert fühlen, dann bitte ich sie manchmal, sich einen Karteischrank vorzustellen. Ich bitte sie, die oberste Schublade zu öffnen, das erste Problem hineinzulegen, sich den Inhalt noch einmal anzuschauen, die Lade mit einem Etikett zu versehen und sie wieder zu verschließen. Ebenso bitte ich sie mit den weiteren Problemen und den übrigen Schubladen umzugehen. Ich sage ihnen: „Sie können den Schrank nun geschlossen halten und werden ihre Probleme, wenn sie sie geordnet angehen wollen darin wiederfinden. Sie werden aber nicht alle Schubladen gleichzeitig öffnen können, sondern nur eine auf einmal. Sollten Sie mehrere Probleme gleichzeitig behandeln wollen, müssen Sie den Inhalt einer Schublade für eine kurze Zeit herausnehmen und ihn später wieder hineinlegen. In den meisten Fällen bewährt es sich aber, die Dinge in den Schubladen zu lassen, in die sie hineingehören. So haben Sie Ordnung und können sich auch den Dingen zuwenden, die Ihnen mehr Spaß machen und Ihnen Kraft geben.“

Der Seemann

Er war ein Seemann. Er war mit Frachtschiffen in verschiedene Länder entlang der Küsten von Europa, Afrika und Südamerika gefahren. Ob er einmal einen schweren Seesturm erlebt hätte, fragte ich ihn. „Ich habe viele Stürme erlebt“, sagte er. „Ich habe Stürme erlebt, bei denen ich dachte: Das überleben wir nie!“ Und da stand er vor mir und hatte überlebt und konnte erzählen, was er erlebt hatte. (Der Grashalm in der Wüste, S. 95 f.)

Die Geschichte erzähle ich Menschen, die vor einer Prüfung oder schweren Bewährungsprobe stehen. Sie leitet dazu an, über ein gedachtes Ende der Welt hinweg zu denken und sich bewusst zu machen, dass auch die früheren Enden der Welt (im Leben anderer Menschen oder im eigenen Leben) von einem neuen Tag gefolgt waren.

Die Geschichte von Frau Sing und Frau Fließ

Gestern hat mir eine Frau gemailt, deren Tochter stottert. Was würde ich als Therapeut mit einem stotternden Kind machen? Mir ist Folgendes dazu eingefallen.

Ich würde ermitteln, wann das Stottern nicht oder weniger ausgeprägt auftritt. Soweit ich weiß, ist das üblicherweise beim Singen der Fall, und sicher gibt es Unterschiede zwischen stressigen und entspannten Situationen. Ich würde erfragen, Weiterlesen

Der Duft des Brotes

„Frau“, sprach der Bäcker, „ich werde älter und meine Kräfte lassen nach. Ein Leben lang habe ich Brot für dieses Dorf gebacken. Ja, von weither sind die Leute gekommen, um meine Brötchen zu kaufen. Wenn jetzt der Tag kommt, dass ich die Teigschüssel aus der Hand legen muss, wer wird dann das Geschäft weiterführen?“ Die beiden hatten keine Kinder. „Geh hin“, sprach die Frau, „such dir einen jungen Mann, der dir zur Hand geht, und den du alles lehren kannst von deiner Kunst. Wenn du alt bist und nicht mehr arbeiten kannst, soll er den Laden weiterführen und du sollst stolz auf ihn sein wie auf einen Sohn.“ Der Bäcker ließ also in den umliegenden Dörfern verbreiten, er suche jemand, der gerne Brot bäckt und der dieses Handwerk bei ihm lernen möchte. In den kommenden Tagen stellten sich bei ihm vier junge Männer vor, und er hatte die Qual der Wahl. Und da ihm die Entscheidung schwer wurde, ging er zu seiner Frau und fragte sie. Sie sagte: „Hol alle noch einmal her. Ich will dir sagen, welchen du nehmen sollst.“ Weiterlesen

Brombeeren pflücken

Als Kind half ich oft meinen Eltern im Garten. Ich erinnere mich, wie mein Vater mich anwies, Brombeeren zu ernten: „Nimm eine Brombeere in die Hand und zupfe ein bisschen daran. Nicht fest, nur ganz leicht. Wenn sie reif ist, fällt sie dir von selbst in die Hand. Wenn sie nicht von selbst abgeht, lass sie los. Sie schmeckt noch sauer.“

Die Brombeeren-Geschichte erzähle ich Menschen, die wegen einer anstehenden Entscheidung hin- und hergerissen sind: Eine Partnerschaft zu beginnen, eine berufliche Veränderung anzugehen oder sonst etwas Neues anzufangen. Oder Leuten, die mit aller Kraft etwas erreichen wollen, was nicht – oder nicht allein – in ihrer Macht steht.

Die Geschichte von den Brombeeren stammt aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“ (S. 64). Sie findet sich auch im Hörbuch „Der Grashalm in der Wüste – Die Taggeschichten.“ Eine Audiodatei der Brombeerengeschichte aus dem Hörbuch ist hier kostenlos downloadbar.

Der Taschenspieler

 

Hypnotherapie – und wahrscheinlich jede Therapie – ist Lenkung der Aufmerksamkeit. Das ist, als ob ich eine Kamera so lenke und einstelle (und den Film nachher so bearbeite und schneide), dass der Zuschauer (respektive Klient) etwas wahrnimmt, was er so noch nicht gesehen hatte und was einen Sinn ergibt. Wobei Sinn nicht immer bedeuten muss, Weiterlesen

Der Goldmacher

Jetzt erzähle ich mal wieder eine Geschichte. Ich verwende sie, um Menschen anzuregen, in scheinbar aussichtslosen Situationen nach einer Sichtweise zu suchen, die aus der Bedrohung eine Chance und aus der Not eine Tugend macht. Therapeutisch gesprochen hilft die Geschichte, belastende Lebenssituationen zu reframen (neu zu deuten) und Problemstrukturen aktiv zum Gestalten von Lösungen zu utilisieren.

In den alten Zeiten lebte bei uns ein Mann vom Stande derer, die sich Alchimisten nennen, der brüstete sich, er habe eine Weise gefunden, wie er Gold herstelle. Da das der König Weiterlesen

Wie baue ich eine Geschichte auf?

Ich habe jemanden getroffen, die meinte, sie könnte keine Geschichten erzählen. Jeder kann Geschichten erzählen! Wir tun es jeden Tag! Es gibt viele Arten, eine Geschichte aufzubauen. Ein Aufbau, der vielen bekannten Geschichten zugrunde liegt, ist zum Beispiel dieser:

1. Den realen oder fiktiven Protagonisten und seine Welt skizzieren

2. Das Problem des Protagonisten darstellen

3. Misslingende Lösungsversuche oder Irrfahrten benennen

4. Frust, Ratlosigkeit, Traurigkeit!

5. Ein äußerer oder innerer Ratgeber hat die Idee zur Lösung

6. Den Erfolg feiern – oder alles offen lassen zum weiter denken

Real erlebte Geschichten lassen sich auf diese Art ebenso aufbauen, wie erfundene. Prägt euch diese Abfolge doch einmal ein, und dann probiert es einmal aus! Viel Spaß dabei!

Reiterin und Pferd

Ich sah, wie eine Reiterin ein Pferd an sich gewöhnte. Die junge Frau war klein und zierlich. Das Pferd, ein schwarzer Wallach, schäumte vor Leidenschaft. Der Wallach sträubte sich und widerstrebte ihren Befehlen. Er hätte sie jederzeit abwerfen können, doch darum ging es nicht. Zwei Seelen rangen miteinander. „Wer führt?“ Die Frage erfüllte die Luft. Die Frau nahm sich viel Zeit für das Pferd. Sie wollte über das Tier herrschen, und es doch nicht unterwerfen. Sie wollte seine Achtung und sein Vertrauen. Am Ende gewann sie das Ringen, und ich glaube, beide waren glücklich.

Den Schrank aufräumen

Ich habe einen großen Wohnzimmerschrank. Beim Einzug in meine Wohnung hatte ich ihn mit Sorgfalt eingeräumt. Alles hatte seinen Platz. Doch im Laufe der Jahre sind in die Fächer, Regale und Schubladen viele Dinge hineingeraten, die dort nicht hingehören – oder zumindest jetzt nicht mehr. Mein Leben hat sich verändert, und andere Dinge sind wichtig geworden. Jetzt räume ich meinen Schrank auf. Als erstes habe ich alles aus dem Schrank geholt und auf dem Boden verstreut. Ein wüstes Durcheinander ist da entstanden – ich glaube aber, ein Durcheinander mit Sinn. Trotzdem, für das Ordnen brauche ich Zeit. Manche Sachen sind mit Erinnerungen verbunden. Ich muss sie mir noch einmal ansehen. Andere fordern von mir eine Entscheidung. Da sind Dinge, die werden weggeworfen. Da sind andere, die werden aufgehoben, aber nicht im Schrank, sondern woanders, zum Beispiel auf dem Speicher. Wieder andere kommen zurück in den Schrank, aber an eine andere Stelle. Der ganze Schrank soll eine neue Ordnung bekommen. Zuvor aber werde ich den Schrank auswischen, den Staub entfernen und vielleicht auch polieren. Meine Tochter war eben da. Sie sah auf das riesengroße Durcheinander und sagte zu mir: „Ich dachte, du wolltest aufräumen?“