Ich kann mich von überschüssigen Nahrungsmitteln nicht trennen. „Essen wirft man nicht weg!“, habe ich gelernt. Zumindest nicht, solange es noch essbar aussieht. Die Lebensmittel, die mich nicht reizen, bewahre ich also, damit sie lange halten, im Kühlschrank auf. Eine, zwei, drei Wochen, einen Monat lang. Wenn sie dann die ersten Schimmelflecken zeigen, werfe ich sie mit beinahe gutem Gewissen weg. Sie sind ja nun nicht mehr genießbar. „Warum wirfst du diese Sachen nicht gleich in den Abfall?“, fragte mich neulich ein Freund. „Wenn du sie am Anfang nicht essen magst, werden sie dir später sicher auch nicht besser schmecken.“ „Wer weiß?“, fragte ich.
Archiv der Kategorie: Suggestive Geschichten
Der Goldwäscher
In einer Hütte am Fluss in den felsigen Bergen lebte einmal ein Goldwäscher. Jeden Morgen stand er auf, wusch sich, aß eine Scheibe Brot, zog seine Arbeitskleidung an und ging mit seinem großen Sieb zum Fluss. Viele Jahre lebte er schon hier und hatte schon so manche Tonne Sand gesiebt. An manchen Tagen fand er etwas Gold, doch selten war es mehr als er brauchte, um sich das Nötigste an Essen, Kleidung und an Werkzeug für seinen täglichen Bedarf zu kaufen. Lange hatte er davon geträumt, auf eine große Menge Gold zu stoßen. Doch dieser Traum, das ahnte er jetzt, würde sich wohl nie erfüllen. Denn meistens, wenn er in sein Sieb schaute, war darin nichts zu finden als nur die kleinen Kiesel, die in der Sonne glitzerten. Eines Tages kam ein alter Schulfreund bei ihm zu Besuch. Er war Juwelier in einer größeren Stadt und hatte es zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht. Er interessierte sich, einmal zu sehen, wie dieser Goldwäscher lebte. „Zeig mir doch bitte einmal, wie du Gold wäscht“, bat er den alten Freund. Zögernd stand dieser auf, nahm sein Sieb von der Wand und ging mit seinem Gast zum Fluss. Er tauchte das Sieb in den Fluss, schüttelte es und ließ das Wasser herauslaufen. „Siehst du, wieder nichts“, seufzte er und blickte auf zu seinem Freund. „Das ist ja unglaublich“, sagte der und wurde blass. „Lauter Diamanten!“
Wecker mit Schlummertaste
Jemand hat gefragt, was man einem siebenjährigen Mädchen erzählen soll, das Angst vor der Narkose habe, vor dem Zu-früh-erwachen und auch vor dem Nicht-mehr-erwachen.
Mein Vorschlag ist, dem Mädchen folgende Geschichte zu erzählen:
„Mein Körper hat einen inneren Wecker“, erzählte mir ein Mädchen, das ich kenne. „Ich sage mir immer vor dem Einschlafen: Morgen früh wache ich um Zehn vor sieben auf, und dann wache ich genau um Zehn vor sieben. Allerdings, neulich bin ich, um Zehn vor sieben aufgewacht und nicht gleich aufgestanden. Dann bin ich noch einmal eingeschlafen und habe die erste Schulstunde verschlafen. Ich wache zwar dann auf, wenn ich es mir vornehme, aber wenn ich dann wieder einschlafe, verschlafe ich komplett.“ „Das kann mir nicht passieren“, sagte ihre große Schwester, die ihr zuhörte. „Mein innerer Wecker hat eine Schlummertaste. Ich sage mir vor dem Einschlafen: Morgen früh wache ich genau um Zehn nach Sechs auf und danach alle fünf Minuten wieder. Und ich wache genau so auf, wie ich es mir vornehme – und dann weiter so, genau wie ich es mir vor dem Einschlafen vorgenommen habe.“ „Daran sieht man“, sagte ihre Mutter, dass der Kopf sogar im Schlaf weiß, was er zu tun hat, und genau das richtige tut.“
Der Mistkäfer
Noch so eine Kindheitserinnerung:
Wenn wir als Kinder mit unseren Eltern spazieren gingen, legte unser Vater uns oft einen blauschwarz schimmernden Mistkäfer in die Hand. „Schließe einmal deine Hand um ihn, und probiere, wie lange er darin bleibt“, sagte er. Wir schlossen dann die Hand, und bald darauf begann der Käfer seiner Arbeit. Mit unwiderstehlicher Kraft drückte scharrte und presste er mit seinen Beinen und mit seinem Körper unsere Finger auseinander. Unnachgiebig arbeitete er sich voran, dem Licht entgegen. Es dauerte nicht lange, bis er der Hand entkommen war.
Das Mülleimermonster
„Das ist ein Mülleimer“, erklärte Luise, als sie mir zum Geburtstag ein Pappmachée-Monster mit dem weit aufgerissenen Maul überreichte. Fred, das Mülleimermonster, saß von da an in meinem Beratungszimmer und wartete auf Nahrung. Anfangs begnügte er sich mit Büroabfällen. Genährt vom geistigen Abfall vieler Gespräche, fand er aber Geschmack an all den Dingen, die die Klienten nicht brauchen und darum im Beratungsraum zurücklassen wollen. Ich gewöhnte mir an, Fred und die Klienten einander vorzustellen. Im Laufe der Zeit fraß das Monster meine manchmal missglückten Worte und viele bedrückte Gedanken von Klienten. Er fraß belastende Erinnerungen und ungeliebte Angewohnheiten. Eine Klientin schickte ihre depressiven Gedanken noch von zuhause aus zu Fred. Am Ende fraß Fred auch auf, was mich belastete. Manchmal saß er nachts an meinem Bett und durfte alle unerwünschten Träume zu sich nehmen.
Ludwig
Es gibt Kindheitserinnerungen, an die ich gerne denke, und die ich in meinem Leben wohl nie vergessen werde. Ich glaube, manchmal hat sich so eine Erinnerung eingeprägt, weil sie auch eine übertragene Bedeutung hat. Es gibt da eine Geschichte, die ich als Kind erlebt habe, die ich depressiv oder zwanghaft reagierenden Menschen erzähle, süchtigen Leuten und solchen, die immer noch das Gleiche tun, obwohl sie schon lange etwas anderes tun möchten. Das ist die Geschichte von Ludwig:
Ich war noch ein Kind. Aber auch, wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich nicht sagen können, wie sich der Karpfen seine merkwürdigen Reisen wohl erklärt haben mag. Einige Freunde von mir hatten sich nämlich einen Streich mit ihm erlaubt. Mit einem Netz fischten sie ihn heimlich bei Nacht aus seinem Teich. Kilometerweit trugen sie ihn in einem Eimer durch Wald und Flur. Das Schwimmbad im Garten meiner Eltern sollte sein neues Zuhause werden. Weiterlesen
Rote Rosen
Sie war geschieden. Sie erzählte mir: „Unsere ganze Ehe lang hat mir mein Mann rote Rosen gebracht. Ich habe ihm nie erzählt, dass die schönsten Rosen für mich crèmeweiße sind. Ich dachte immer: Wenn er mich wirklich liebt, dann wird er es von selbst bemerken.“
(Hammel, Der Grashalm in der Wüste, 67)
Es müsste doch gehen…
Es müsste doch gehen… Nach diesem Motto habe ich begonnen, meinem Körper Geschichten zu erzählen – den Hautzellen, dem Immunsystem und auch dem Heuschnupfen, der mich plagte. Ich habe ihnen Geschichten erzählt über das, was ich mir von ihnen wünsche. Ich habe die Immunabwehr gelobt und mit iher verhandelt. Ich habe festgestellt: Schon nach kurzer Zeit ließen die Symptome nach, und bald verschwanden sie ganz. Einer befreundeten Ärztin habe ich davon erzählt. Sie lachte. „Es werden gerade keine Pollen fliegen! Bei Heuschnupfen musst du langfristig denken. Da gibt es Schwankungen über Jahre hinweg.“ Am nächsten Tag war mein Heuschnupfen wieder da. Sehr ärgerlich! „Lieber Heuschnupfen“, habe ich gesagt. „Geh zur Kollegin nach Mainz, die kann dich brauchen. Bei mir wirst du nicht gebraucht.“ Die Symptome sind in Sekunden verschwunden. Und die Kollegin hat gesagt, der Heuschnupfen sei bei ihr nie angekommen… Vielleicht hat er sich auf dem Weg zu ihr verirrt?