Die Randlinie

Gestern fragte mich jemand nach einer Geschichte für eine Borderline-Patientin, die sich ritzt und sich oftmals schämt, weil die Haut ihrer Arme so rau und vernarbt ist. Ich sagte zu ihr:

„Vielleicht ist es dir auch schon passiert, dass du auf der Autobahn auf die Randlinie gefahren bist. Früher hat man zum Zeichnen dieser Randlinien einfach Farbe verwendet. Man hatte aber das Problem, dass manchmal Leute auf der Strecke eingeschlafen sind und von der Spur abgekommen sind. Dann hatte jemand eine gute Idee. ‚Wenn die Randlinie aus einem Material mit Querrillen ist, dann gibt es ein lautes Geräusch, sobald jemand mit seinem Auto die Rille berührt. Man wacht sofort auf und kommt zurück auf die richtige Spur.‘ Sie haben das ausprobiert, und schon nach den ersten Versuchen hat es immer besser geklappt: jedesmal, wenn jemand diese Grenzlinie schnitt oder sie überhaupt auch nur am Rande mit seinem Reifen berührte, gab es ein so lautes Signal, dass die Leute sofort zurücklenkten und weiterfuhren auf der dafür vorgesehenen Spur. Seit sie dieses Warnsignal beim Berühren derRandlinie eingeführt haben, sind Unfälle dieser Art weit zurückgegangen. Man kennt die Methode inzwischen auch bei Mittellinien und anderen in Frage kommenden Markierungen.“

Das ausgewechselte Gedächtnis

Ein Freund erzählte mir neulich, er habe früher ein ausgezeichnetes Gedächtnis gehabt, jetzt aber sei sein Gedächtnis schlecht geworden. Beispielsweise habe er früher einmal ein Lied verfasst, das er gerne wieder einmal singen wolle, aber er habe den größten Teil des Liedes vergessen.

Ich laberte ihn mit einem Vortrag über sein Gedächtnis in Trance. Sinngemäß sagte ich zu ihm: „Wenn du früher einmal ein gutes Gedächtnis hattest, dann hast du es auch jetzt. Du hast nur gerade keinen Zugang dazu. Das liegt wahrscheinlich daran, dass du behauptest, kein gutes Gedächtnis zu haben, so dass du glaubst es sei so, so dass es auf einer oberflächlichen Ebene tatsächlich so ist. Wenn du dir stattdessen Geschichten darüber erzählst, wie gut dein Gedächtnis ist, wirst du innerhalb von Minuten bemerken können, dass dein Gedächtnis besser wird. Tatsächlich ist dein Gedächtnis immer gut, wenn es dir wichtig ist, dich zu erinnern. Wenn es scheinbar nicht gut ist, dann ist es dir nur gerade nicht wichtig, dich an etwas zu erinnern – oder es ist dir eine Zeitlang nicht wichtig gewesen, dich zu erinnern, und danach hast du deine Meinung darüber geändert, und es ist dir erst später wieder wichtig geworden. Du kannst das Gedächtnis für dieses Lied aber wiedergewinnen. Schreib einfach die Zeilen und Fragmente auf, die du noch weißt, in der Reihenfolge, die du am ehesten für richtig hältst. Dann beschäftigt sich dein Unbewusstes nur noch mit den Zeilen, die noch fehlen, und es hat seine Brückenpfeiler gebaut von den Zeilen, die du schon bewusst weißt zu denen, die du noch finden willst. Das ist wie ein Puzzle, das immer leichter zu lösen ist, je mehr Teile du schon gefünden und ineinandergefügt hast.

Der Freund sagte: Das probiere ich aus. Er suchte sich Stift und Papier und begann zu schreiben. Nach fünf Minuten nahm er seine Gitarre und sang das ganze Lied.

Metaphernseminar beim Milton-Erickson-Institut Heidelberg

In gut anderthalb Wochen, vom 2. bis 3. Oktober halte ich beim Milton-Erickson-Institut Heidelberg ein Geschichten-Erzähl-Seminar. Der Titel des Seminars lautet:

Die Kraft von Metaphern im System und mit System – Geschichten entwickeln als wirksame Intervention für Therapie, Coaching, Unterricht und Seelsorge.

Das Seminar wendet sich unter anderem an System- und Hypnotherapeuten, die lernen möchten, während der Beratung spontan therapeutische Geschichten zu entwickeln und diese sofort ins  Gespräch einzubringen – oder auch zuhause in aller Ruhe für die Klienten Metaphern zu erdenken und ihnen diese dann vorzutragen. Die Fortbildung ist anerkannt als C-Seminar im Rahmen des M.E.G.-Curriculums.

Der Teilnehmerbeitrag liegt bei 250 Euro, und es sind noch einige Plätze frei. Die Resonanz bei einem ähnlichen Seminar im vergangenen Jahr war äußerst positiv, und ich denke, wir werden wieder viel Spaß miteinander haben. Wer sich also jetzt anmelden möchte, hat noch die Möglichkeit. Der offizielle Ausschreibungstext lautet so:

Therapeutisches Erzählen ist seit jeher ein zentraler Bestandteil von Hypnotherapie, Systemik und vielen anderen Beratungsformen. Der Einsatz von Metaphern- und Beispielgeschichten ist aus dem alten Orient bekannt und ist bis heute eine der wirksamsten Beratungsformen. Die Geschichten werden vom Berater erzählt oder vom Klienten eingebracht und vom Berater reframed, oder sie werden von den Gesprächspartnern gemeinsam entwickelt. Nur, wie entdecke ich eine nützliche Geschichte und wie erzähle ich sie? Per Musenkuß? Das Seminar vermittelt die Techniken, um individuelle Geschichten in der Beratung spontan zu entwickeln und sie therapeutisch wirksam zu erzählen.

Ziel des Seminars ist es also, zu lernen, wie man…
• therapeutische Geschichten für Klientinnen und Klienten findet
• jederzeit Beispielgeschichten für einzigartige Lebenssituationen erfindet
• Erzählungen therapeutisch wirksam formuliert und ins Gespräch einbettet
• Problemmetaphern von Klienten in Lösungsmetaphern transformiert, die von den
Beratenen unwillkürlich in ihre Wirklichkeit reintegriert werden
• motivierende, warnende, Such- und Lernhaltungen aktivierende Geschichten aufbaut.

Weitere Infos und die Möglichkeit, euch anzumelden, findet ihr hier.

Die Ahnungslosen

„Ich habe oft Jugendliche vor mir sitzen, die auf jede Frage, die ich ihnen stelle, antworten: ‚Keine Ahnung‘. Was kann man mit denen machen?“ fragte mich eine Beraterin.

„Erzähle ihnen vom Stamm der Ahnungslosen“, sagte ich. „Sie leben im Dschungel der Unwissenheit und haben echt keine Ahnung. Als sie sich Hütten bauen wollten, haben sie am Anfang Gras genommen. Das hat aber nicht geklappt, dann haben sie Blätter genommen. Danach haben sie es mit Lianen probiert, das war auch nicht so gut. Rindenstücke waren zwar besser, aber auch nicht überzeugend. Sie haben alles mögliche versucht, es war alles nichts. Die Holzhütten haben dann schließlich gehalten. Dann wollten sie sich Kleider machen. Und sie hatten echt keine Ahnung. Sie haben mit Schlamm experimentiert, den sie auf der Haut haben trocknen lassen, und danach mit Büffelmist, den sie zu breiten Fladen ausgerollt haben und nach dem Trocknen um die Hüften gelegt haben. Das war zwar besser, hat aber bei Regen nicht mehr funktioniert. Kleider aus Dornengestrüpp waren auch nicht das Richtige. Irgendwann haben sie dann Flechtröcke und Lederstücke verwendet, von da an ging es besser. Die waren so blöd, die waren echt ahnungslos. Einmal wollten sie ein Boot bauen. Da haben sie Wasserpflanzen verwendet. Auch die Boote aus Stein waren nicht gut. Die Ahnungslosen haben alles Mögliche probiert. Sie waren so ahnungslos, dass sie noch nicht mal ans Aufgeben gedacht haben. Das ist schon eine Leistung. So haben sie halt immer weitergemacht. Irgendwann hat mal einer einen Baum ausgehöhlt. Das hat funktioniert, das haben sie beibehalten. Dann wollten sie Fischen fahren. Erst wollten sie die Fische vergiften, aber das war nicht so gut… und so weiter…

Erzähle den Jugendlichen so lange von den Ahnungslosen, bis sie es überdrüssig werden und von ‚keine Ahnung‘ nichts mehr wissen wollen. Erzähle ihnen so lange, wie die Ahnungslosen ‚keine Ahnung‘ hatten, bis die Jugendlichen zwischen Amüsiertheit und zunehmend genervter Ungeduld schwanken. Dann erzähl ihnen eine Lösung und ziehe die nächste Etappe wieder in die Länge. Nimm dir Zeit. Lass die Ahnungslosen so doof sein, wie es nur geht, und noch viel unfähiger, als die Jugendlichen sich fühlen. Lass sie so bescheuert sein, dass die Jugendlichen nur über sie lächeln können. Die Ahnungslosen sind maximal blöd. Das Gute ist nur, dass sie immer weiter machen und immer Erfolg haben. Wer den Stamm der Ahnungslosen kennt, für den ist, ‚keine Ahnung‘ zu haben, nicht mehr cool und auch nicht mehr egal. Aber es ist auch keine Tragödie. Man kann etwas daraus machen.“

Das Zölibat

Es war irgendwann in der Zukunft. Eines Morgens erwachte ein Papst mit einem seltsamen Traum. Im Traum hatte er vor Tausenden von Priestern gesprochen. Aus einer Eingebung heraus hatte er gerufen: „Mit dem heutigen Tag ist das Zölibat aufgehoben. Priester dürfen ab jetzt wieder heiraten.“ Die Priester aber jubelten nicht. Sie schauten ihn an und schwiegen still. Da hörte er hinter sich eine Stimme: „So viele Jahre lang habe ich mir viele Freuden versagt und mein Leben nach der rechten Lehre ausgerichtet. Soll das alles umsonst gewesen sein?“ Er drehte sich um und sah in einen Spiegel. Da hörte er einen Chor von Priestern, die sangen in Psalm und Antiphon: „Soll das umsonst gewesen sein?“ „Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht!“ Später an jenem Morgen traf der Papst einen Kardinal und fragte ihn: „Was würde passieren, wenn ich das Zölibat aufhöbe?“ „Du hättest ein Leben lang vieles umsonst getan und unterlassen. Du wärest umgeben von Menschen, die ein Leben lang vieles umsonst getan und unterlassen haben. Wir müssten unser Leben neu ausrichten. Es gäbe eine Krise. Bedenke, was du tust.“ „Ja“, sagte der Papst, „das ist ein wirklich mutiger Schritt“

Die Geschichte vom Zölibat habe ich gestern im Zusammenhang eines Mannes erwähnt, der eine längere Zeit der Depression durchlitten hatte und sich davon in relativ kurzer Zeit erholt hatte. Ich habe die Geschichte zuerst im „Handbuch des therapeutischen Erzählens“ aufgeschrieben. Als Anwendung für die Geschichten habe ich dort notiert:

Die Therapie von Zwangshandlungen oder Wahnvorstellungen, die für die Biographie eines Menschen bereits prägend sind, weil sie über eine längere Zeit unter Einbeziehung der Familie und der Öffentlichkeit ausgelebt wurden, oder weil sie mit großen Opfern verbunden waren, kann erschwert werden durch die Notwendigkeit, die Vergangenheit  neu zu interpretieren. Es ist eine große Leistung, die Vergangenheit umzuschreiben und persönlich und öffentlich hinter der neu gefundenen Lebensdeutung und Lebensgestaltung zu stehen. Um dem Klienten den Schritt in ein solches neues Leben zu ermöglichen, kann es sinnvoll sein, auf den Preis hinzuweisen, der dafür zu zahlen ist. Zu diesem Preis gehört oft auch die Trauer verpasste Chancen in der Vergangenheit. Wer einen solchen Schritt tut, hat Respekt und Bewunderung verdient.

Narben heilen

Ein befreundeter Arzt hat mich eben angerufen und gefragt: „Ich habe einen Patienten, dem muss ich eine Spritze in eine Narbe geben, aber es tut ihm so schrecklich weh. Das Ziel ist, die Narbe wieder geschmeidig und schmerzfrei zu kriegen. Narkotika möchte ich ihm aus verschiedenen Gründen nicht geben. Hast du eine Idee?“ Ich ließ mir von seinen Hobbies und Interessen erzählen. „Er ißt gerne, außerdem hat er sich selbst einen Bogen angefertigt, er ist Bogenschütze.“

„Frag ihn, ob er gerne Pizza ißt“, sagte ich, „und andernfalls frag ihn nach Quiche Lorraine, Flammkuchen oder amerikanischen Pie. Irgendwas zum Ausrollen halt. Lass ihn sich vorstellen, wie das duftet, und lass ihn den Geruch tief und genüsslich einatmen. Dann hat er eine Art zu atmen, die mit Schmerzen nicht vereinbar ist. Außerdem fokussiert er dann auf eine optische, geruchliche und geschmackliche Halluzination, so dass er das Kinästhetische ausblendet. Während er damit beschäftigt ist, kannst du ihm erzählen, wie man den Teig ausrollt. Manchmal hat er nicht die passende Form, die er für das Blech braucht. Dann setzt man am Rand ein Stück dran. Beim Pie macht man das so: Man besprenkelt die Nahtstelle mit kaltem Wasser, am besten Eiswasser. Dann glättet man die Verbindungsstelle mit einem Nudelholz, bis es ganz glatt und geschmeidig ist. Da ist dann nicht einmal mehr eine Naht zu sehen. Es ist ein Stück geworden. Du kannst auch erzählen, wie ihr als Kinder Knetmasse geformt habt, oder wie ein Töpfer aus lauter runden Tonwürsten, die er miteinander verstreicht, ein Gefäß macht, das dann aus einem Stück besteht. Auch die Töpfer verwenden übrigens kühles Wasser.“

„Der Mann hat auch ein Problem, dass er einen Finger nicht mehr richtig bewegen kann. Dafür wäre doch die Sache mit dem Bogen gut. So ein gut gemachter Bogen ist ja extrem biegsam“, sagte der Freund.

„Ja, und wenn du mit ihm darüber sprichst, wie er als Bogenschütze sein Auge auf das Ziel richtet, es genau in den Blick nimmt, noch ein winzig kleines bisschen schwankt und dann genau im richtigen Augenblick den Pfeil loslässt, dann ist er so extrem auf einen kleinen Punkt ausgerichtet, dass er alles andere ausgeblendet hat – von der Narbe ganz zu schweigen.“

Sicherheitsvorschrift

„Guten Morgen. Im Namen des Flugkapitäns und der Crew begrüßen wir Sie sehr herzlich an Bord des Fluges 714 von Frankfurt nach Madrid…“ Freundlich und routiniert klang die Stimme der Stewardess. Wie sie es wünschte, stellte ich meinen Sitz aufrecht und schloss den Sicherheitsgurt. Dann schaute ich aus dem Fenster, wo sich langsam die Rollbahn nach hinten zu bewegen schien. Ich hörte, wie die freundliche Stimme sagte: „Sollte es während des Fluges in der Kabine zu einem Druckverlust kommen, fällt aus der Klappe über Ihrem Sitz automatisch eine Sauerstoffmaske. Mit Hilfe des daran befestigten Gummibandes können Sie die Maske an Ihrem Kopf festziehen. Drücken Sie die Maske fest an Ihr Gesicht und atmen Sie tief und ruhig. Reisende mit kleinen Kindern legen sich bitte zuerst ihre eigene Maske an und kümmern sich danach um die Sicherheit ihres Kindes…“ Ich schaute neben mich, wo meine Zweijährige in ihre Decke gekuschelt saß. Ich fragte mich: Würde ich diese Vorschrift einhalten?

Dem Löwen ins Auge blicken

Das hier hat mir ein Afrikaner erzählt, Mr. Mniyka aus Kenia.

„Wenn du einem Löwen begegnest“, so erzählte er, „dann musst du ihm unverwandt in die Augen blicken. Ein einziger kurzer Blick zur Seite, eine Zehntel Sekunde nur, und der Löwe greift an. Er springt schneller als du dich bewegen oder reden oder auch nur denken kannst. Darum, wenn du einem Löwen begegnest, dann schau ihm unentwegt in die Augen. Schaue ihn an, schaue ihn einfach nur an, unentwegt – so lange, bis er geht!“

(Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 76)

Handbuch des therapeutischen Erzählens

Gestern habe ich das erste Exemplar in der Hand gehabt: Das „Handbuch des therapeutischen Erzählens“, in dem auch viele der Geschichten aus diesem Blog enthalten sind, ist frisch erschienen. Mit fast 370 Seiten ist es umfangreicher geworden, als ursprünglich geplant. Wie die Lektorin nach getaner Arbeit zu mir sagte: „Der Titel beschreibt das Konzept genau; es ist wirklich ein ‚Handbuch‘.“ Das heißt, es fasst als Grundlagen- und Nachschlagewerk gleichzeitig umfassend und kompakt möglichst alles Wesentliche zum Thema zusammen. Die bibliographischen Angaben des Buches lauten:

Stefan Hammel: Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision. Klett-Cotta, Stuttgart 2009 (Reihe Leben Lernen).

Stefan Hammel: Handbuch des therapeutischen Erzählens

Das Handbuch enthält:

  • Über 230 kommentierte Geschichten
  • Psychotherapie, Kinder- & Familientherapie, Heilkunde, Coaching
  • Detaillierte Erklärung der Methodik des therapeutischen Erzählens
  • Register zu Symptomen, Problemen, therapeutischen Methoden
  • 367 Seiten

Es kostet in Deutschland 34,90 € (Schweiz 59,00 SFr), und hat die ISBN 978-3-608-89081-5.

Der Verlag selbst beschreibt das Buch so: Weiterlesen