Die unsichtbare Seidenstraße

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Vor langer Zeit, im Reich der alten Chinesen, gab es einen berühmten Handelsweg für Seide, der war viele tausend Kilometer lang. Man nannte ihn die Seidenstraße. Da zogen Pferdekarawanen von China übe Indien bis nach Europa, um mit kostbarer Seide und Porzellan zu handeln. Später entwickelten sich andere Handelswege; man transportierte die Güter mit Schiffen, Flugzeugen und Eisenbahnen. Viele wissen nicht mehr, wo diese Straße einst verlief und was sie den Menschen damals bedeutete. Die aber, die da wohnen, wo die Straße entlanglief und – wenn auch von vielen vergessen – heute noch dort verläuft, die wissen genau, was es mit dieser Route auf sich hat. Sie sind stolz darauf, an der Seidenstraße zu wohnen, auch, wenn es andere Menschen gibt, die noch nicht einmal wissen, was die Seidenstraße ist, ja, die vielleicht noch nie davon gehört haben mögen. Und manchmal erzählen sie davon, dass man in stillen Nächten noch das Klappern der Fuhrwerke und das Wiehern von Pferden hören kann.

Ich stelle mir vor, wie so eine Straße aussehen würde zwischen deiner alten Heimat und dem Ort, wo du jetzt wohnst, vielleicht entlang der Strecke, auf der du hergekommen bist oder auf einer ganz anderen Route. Ich stelle mir vor, dass darauf unsichtbare Leute wandern, vielleicht Feen, Elfen, Zwerge, oder Boten, die du zu deinen Verwandten dort schickst, und sie schicken sie zurück zu dir.

Wenn du dir vorstellst, der Ahmad (Name des Klienten), der Sehnsucht hat, könnte in der Nacht als Traumbild von sich selbst auf dieser Straße reisen, ganz langsam zu Fuß oder mit Lichtgeschwindigkeit oder so etwas dazwischen: Auf dem Weg würden ihm die anderen begegnen, die unsichtbaren Leute, die Traumbilder von seinen Brüdern, Schwestern, Eltern, Großeltern, die diese ihm entgegengeschickt haben, um ihn zu empfangen und ihn nach Hause zu geleiten.

Zuhause angekommen: Wenn du dir vorstellst, wie sie feiern, wie die Musik erklingt, wie sie tanzen… Wenn die Träumenden sich treffen, ist es, wie im Himmel: Zeit spielt keine Rolle, und eine Stunde kann so viel bedeuten wie eine Ewigkeit. Dann, bei der ersten Morgenröte ist es Zeit zurückzukehren. „Ich will nicht weggehen. Kann ich nicht bleiben?“ fragst du. Die anderen wiegen den Kopf. „Morgen treffen wir uns wieder.“ Sie geleiten dich zurück – den Ahmad, der du bist, wenn du träumst – auf dem Weg der unsichtbaren Seidenstraße. Du kommst zurück, doch all das bringst du mit: Den Gesang, den Klang der Instrumente, die schönen Gewänder, das köstliche Essen, die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, geleiten dich in den Tag. Es ist wie im Ramadan: Wenn die Sonne heiß brennt, musst du tapfer sein. Sind ihre Strahlen verglommen, dann ist die Zeit, wo man ißt und trinkt. Morgen, im Schlaf, wird wieder getanzt.

Die “unsichtbare Seidenstraße” kann dazu beitragen, Menschen, die von ihren Angehörigen getrennt leben müssen, eine erfüllte innere Verbundenheit erleben zu lassen. Es ist die Regel, dass wichtige Angehörige die meiste Zeit nicht physisch bei uns sind, sondern als anwesend imaginiert werden. Nicht die Trennung als solche, sondern die von Menschen oder dem Schicksal auferlegte, unfreiwillige Trennung wird als Belastung erlebt, insbesondere, wenn wir sie als Trennung auf unbestimmte Zeit oder “für immer” ansehen.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Zugehörigkeit erleben lassen„.

Das Sofa des Glücks – Therapeutisches Modellieren mit Einzelnen und Paaren

Am 10.09. – 11.09.2022 werde ich beim SySt Institut in München einen Workshop zum Thema

„Das Sofa des Glücks – Therapeutisches Modellieren mit Einzelnen und Paaren“

halten.

„Therapeutisches Modellieren“ ist eine schnelle, sichere und radikal effektive Form hypnosystemischer Therapie (oder wacher Hypnotherapie), bei der…

• das belastende Erleben aus dem Klienten heraus auf verschiedene Sitzplätze dissoziiert wird,
• der Klient als Person mit dem Zielerleben auf einem anderen Platz imaginiert wird,
• der Klient durch einen Wechsel auf den Ziel-Platz mit dem Zielerleben identifiziert und
• das Zielerleben als neues Identitätserleben des Klienten stabilisiert wird.

Teil dieser von mir entwickelten Therapieform ist ein genaues Beobachten und Beschreiben der nonverbalen Reaktionen des Klienten, um die jeweils auftretenden positiven Veränderungen zu verstärken und zu stabilisieren, sowie eine therapeutische Dramaturgie, bei der zunehmend positiver Erwartungen erzeugt werden. Es ergibt sich eine neue Form von Einzel-, Paar- und Familientherapie, die vom Körpererleben und unwillkürlichen Verhalten her aufgebaut ist. Das Vorgehen ist gerade bei schwer durchschaubaren, chronifizierten und schnell eskalierenden Konflikten sehr geeignet, um gute Lösungen herbeizuführen.

Der Anmeldeschluss ist der 27.08.2022.

Zeiten:

10.09.2022: 11.00 – 14.00 und 16.00 – 19.30 Uhr
11.09.2022: 10.00 – 13.00 und 14.30 – 17.00 Uhr

Preis: 396,00 inkl. MwSt.

Weitere Informationen und die Buchungsoption finden Sie bei SySt Institut: https://www.syst.info/de/seminar/das-sofa-des-gluecks-therapeutisches-modellieren-mit-einzelnen-und-paaren

Liebe Grüße, Stefan Hammel

Der Mann am Meer

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Auf einer Anhöhe an einem Küstenstreifen im Osten Afrikas saß ein Mann und schaute aufs Meer. Seit vielen Jahren saß er da, jeden Tag, und schaute in die Ferne. „Warum sitzt du immer hier?“ fragten ihn die Fischer, wenn sie an ihm vorübergingen. „Was hockst du da und guckst aufs Meer?“ fragten ihn die Dorfbewohner.  „Warum machst du das?“ fragten auch seine Freunde. Seine Antwort war jedes Mal dieselbe. „Vor vielen Jahren kam eine große Welle aus dem Ozean, ein Tsunami, der alles mit sich gerissen hat. Meine Familie habe ich verloren. Ich selbst habe mit knapper Not überlebt. Jetzt sitze ich hier und warte, wann die nächste Welle kommt.“ „Aber so eine Welle kommt doch sehr selten. Alle tausend Jahre vielleicht, höchstens. Willst du hier dein Leben vertun, um nach einer Welle zu schauen, die vielleicht nie kommt?“ „Ich sitze ich hier und warte, wann die nächste Welle kommt“, wiederholte der Mann. Dabei blieb er. Viele Male hatten seine Freunde versucht, ihn dazu zu bewegen, sich bei ihnen oder in der Dorfgaststätte zuhause zu einem gastlichen Essen zu treffen. Vergebens! Er kam nicht mit.

Eines Abends kam ein Wanderarbeiter in das Dorf. „Warum sitzt der Mann immer da?“ fragte er. „Lädt ihn keiner ein? Mag er keine Gesellschaft?“ Sie erzählten ihm seine Geschichte. „Du brauchst es gar nicht zu versuchen. Er wird nicht mit dir essen. Mit uns isst er auch nicht.“ „Lasst uns einmal sehen…“ 

Als der Abend sich über die Küste senkte, sah man den Mann auf seiner Anhöhe sitzen, neben ihm den Wanderarbeiter und rings umher die Freunde des Mannes und die Leute aus dem Dorf. In ihrer Mitte lagen auf einem großen Tuch all die Speisen und Getränke, die sie mitgebracht hatten. Die Musiker aus dem Dorf trommelten und spielten traditionelle Weisen, während andere in festlichen Gewändern dazu tanzten. Und wer ganz genau hinschaute, dem konnte es für Augenblicke scheinen, als ob in den Augen des Mannes eine Träne stünde, in der sich die Abendsonne spiegelte, die über den Hügeln hinter dem Dorf unterging.

Die Geschichte erzähle ich Menschen, die sich nach einer plötzlich über sie hereingebrochenen Katastrophe so verhalten, als ob sie in harmlosen Lebenssituationen auf der Hut vor einer Gefahr sein müssten. Die Geschichte lädt Betroffene, Freunde und Helfer dazu ein, einen solchen Menschen zu seinen Bedingungen erleben zu lassen, dass er zu ihnen gehört und in dieser Zugehörigkeit Schutz und Geborgenheit erleben zu lassen

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Traumazu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Zugehörigkeit erleben lassen„.

Vom Aussterben der Drachentöter

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Es war einmal ein Drachen, der lebte in einer Höhle und passte auf seinen Schatz auf.

Was ihn aber sehr nervte, war, dass alle naselang Ritter vorbeikamen, die ihn töten und ihm seinen Schatz rauben wollten. Er musste sie alle umbringen. Das war ihm lästig und hinderte ihn oftmals am Schlafen. Die Leute des Landes wiederum litten darunter, dass er in den warmen Sommermonaten gerne ausgedehnte Spaziergänge unternahm. Manchmal, wenn er einen Insektenschwarm in die Nase bekam, musste er niesen, und immer wieder kam es vor, dass er den Bauern mit seinem Feueratem die Ernte anzündete. Der König des Landes hatte daher demjenigen den Schatz des Drachens versprochen, dem es gelänge, das Untier zu töten. Immer wieder kamen mutige Männer vor den König, die versprachen, dem Drachen den Garaus zu machen. Der eine zog mit einer Lanze los, der andere mit dem Schwert, der dritte mit Feuer. Doch keiner von ihnen kehrte je zurück.

Als schließlich alle Mutigen im Land vom Drachen vernichtet worden waren und nichts sich zum Besseren gewendet hatte, fiel eine Schwermut auf den König. Noch einmal schickte er seine Herolde aus mit der Frage: „Hat denn keiner im Land eine Idee, wie wir dem Übel aus der Drachenhöhle beikommen können?“

Die Hoffnung hatte ihn beinahe gänzlich verlassen, da trat vor den König ein Junge, der sagte: „Ich gehe in die Höhle des Drachen!“

Der König zögerte. Was konnte dieser Junge schon ausrichten? Er war ja, wie es schien, noch nicht einmal bewaffnet. Konnte man es verantworten, ihn ziehen zu lassen, um wie die anderen vom Drachen vertilgt zu werden? Der Junge bat aber sehr darum, gehen zu dürfen, und da der König nicht wusste, was er sonst tun sollte, ließ er ihn ziehen.

An der Höhle angekommen, rief der Junge in die Höhle hinein: „Drache, ich muss dich etwas fragen!“ „Was willst du mich denn fragen?“ donnerte der Drache zurück. „Warum verbrennst du unsere Felder, so dass wir hungern müssen und tötest alle unsere mutigen Ritter?“ „Sind das eure Felder? Das hatte ich gar nicht bemerkt. Das tut mir leid. Aber die Ritter muss ich töten, weil sie mich belästigen und am Schlafen hindern.“ „Drache, wir könnten es so machen: Könntest du vielleicht aufpassen, dass du unsere Ernte nicht anzündest, und ich sorge dafür, dass dich keine Ritter mehr beim Schlafen stören?“ „Kein Problem, ich kann ja auch woanders spazieren gehen. Würdest du mir dafür tatsächlich die Ritter vom Leib halten?“ „Das würde ich für dich tun.“ „Dann könnte ich endlich einmal wieder durchschlafen. Das ist ja traumhaft! Wie kann ich dir das danken?“ „Könnte ich vielleicht von deinem Schatz etwas abhaben?“ „Klar doch, ich habe ja genug. Wir können ihn uns teilen.“

Die Geschichte verwende ich, um zu verdeutlichen, dass Trauma auf einer Überlastungsreaktion beruht, bei der gute Absichten aufgrund einer Fehlinterpretation umgesetzt werden. Wenn man mit den Instanzen kommuniziert, die dieses Missverständnis erlitten haben, lässt sich die Traumatisierung oft erstaunlich mühelos auflösen.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Ein neuer Blick auf scheinbar schlechte Reaktionen„.

Des Menschen Wolf

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Es ist erstaunlich, dass wir heute die Nachfahren der Wölfe dafür einsetzen, um Menschen und sogar Schafe zu beschützen. Wissenschaftler nehmen an, dass diese Entwicklung bis in die Steinzeit zurück reicht. Damals haben die Menschen ihre Abfälle auf einem Müllplatz außerhalb ihres Lagers entsorgt, nicht zu weit, um sich lange Wege zu ersparen, aber auch nicht zu nah, wegen des Gestanks und der Gefahr von Infektionen. Auf den Abfall kamen auch tierische Abfälle, und dafür interessierten sich die Wölfe. Die Wölfe begannen, die Fleischreste als Geschenke der Menschen aufzufassen, während die Menschen sich freuten, dass die Wölfe den Haufen sauber hielten, Bären vom Lager fernhielten, die Menschen vor Gefahr warnten und sie schließlich sogar mit Zähnen und Klauen gegen Angriffe feindlicher Stämme verteidigten. So wurde es zu einer Mutprobe für junge Männer, einem Wolf das Fleisch mit der bloßen Hand zu reichen. Oder sollen wir sagen: Es wurde eine Mutprobe für junge Wölfe, das Fleisch aus der Hand eines Menschen zu nehmen? Der Bann war gebrochen: Die Wölfe verteidigten mit noch größerer Treue die Menschen, und die Menschen fütterten und streichelten die Wölfe. Man sagt, die Menschen hätten die Wölfe zu Hunden gemacht. Vielleicht haben die Wölfe uns aber auch zu den Menschen gemacht, die wir sind: Womöglich trug es zur Möglichkeit bei, sesshaft zu leben, dass die Wölfe (und später die Hunde) sie gegen Überfälle nomadisch lebender Gruppen geschützt haben. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“, hat ein Philosoph gesagt. Aber der Wolf ist nicht böse. Die Menschen der Steinzeit wussten das; die Späteren haben es vergessen. Erst jetzt haben wir begonnen, ihn mit neuen Augen zu sehen.

Die Beziehung zwischen Menschen und Wölfen hat mehr Facetten als wir auf den ersten Blick erkennen. Die Interessenlagen sind in komplexer Weise miteinander verschränkt. So ist es auch mit unseren Beziehungen zu Familienmitgliedern oder auch zu unseren inneren Impulsen, die abwechselnd als förderlich und beschützend oder als bedrohlich und zerstörerisch erlebt werden können. Die Geschichte kann eingesetzt werden, wo Menschen sich im Umgang mit Treue und Wut, überhaupt mit ihren Gefühlen gegenüber Familienmitgliedern zwiespältig und zerrissen fühlen oder ihr Gefühlsleben verhärtet haben. Der Blick auf die Wölfe kann dazu beitragen, authentisch und wertschätzend mit eigenen aggressiven Impulsen umzugehen und dadurch Gefühle von Scham und Schuld zu reduzieren.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Ein neuer Blick auf scheinbar schlechte Reaktionen„.

Seminar in München: Die Kunst des Therapeutischen Erzählens

Am 27. und 28. Juli halte ich bei istob in München ein Seminar dazu, wie man jederzeit aus dem therapeutischen Gespräch heraus spontan wirksame therapeutische Geschichten entwickeln kann. Es sind noch einige Plätze frei. Interessierte können sich bei mir oder direkt bei istob anmelden.

Seminarzeiten: Mittwoch, 27.07.22, 10-18 Uhr & Donnerstag, 28.07.22, 09-17 Uhr

Seminarort: Kulturhaus Milbertshofen, Curt-Mezger-Platz 1, 80809 München

Teilnehmerbeitrag: Die Kosten für das Seminar liegen bei 249,00 Euro.

Therapeutisch wirksame Geschichten und Metaphern sind seit Menschengedenken Teil der Beratung in vielen Kulturen. Die Psychotherapie hat diese effektive Herangehensweise wieder entdeckt. Erzählt wird oft aber mehr „aus dem Bauch heraus“ – meist fehlen schlüssige Konzepte für das therapeutische Erzählen.

Das Seminar widmet sich der praktischen Beantwortung der Fragen:

Wie finde ich die rechte Geschichte zur rechten Zeit?

Was wirkt an therapeutischen Metaphern?

Wie konstruiere ich therapeutische Geschichten planvoll und wie erzähle ich sie?

Wie kann ich spontan geeignete Bilder finden – dann, wenn ich sie brauche?

Das Seminar gibt anschaulich, erfahrbar und erlebbar Antworten auf diese Fragen.

Ziel ist es, zu lernen, wie man…

  • therapeutische Metaphern für Klientinnen und Klienten entwickelt
  • jederzeit spontan Geschichten für einzigartige Lebenssituationen findet
  • Problemmetaphern von Klienten in Lösungsmetaphern transformiert
  • Frühere Erfahrungen der Klienten, eigene Erlebnisse und Anekdoten als Geschichten nutzt
  • Geschichten nutzt, um Belastungen durch Depression und Burnout, zu reduzieren

Das Seminar ist übungs- und anwendungsorientiert und geht auf die individuellen Arbeitssituationen der Teilnehmenden mit praxisbezogenen Anregungen ein. Besondere thematische Schwerpunkte wie Burnout und Depression, Integration therapeutischer Methoden in Coaching und Teamentwicklung,

Viele Gesichter

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“Melanie hat so viele Gesichter, ständig schaltet sie um und ist wie ein anderer Mensch. Ich weiß gar nicht, mit wem ich es zu tun habe!”

“Man redet ja manchmal von “Multiplen Persönlichkeiten”, und ich dachte immer, das ist etwas ganz Seltenes, was es fast nur in Lehrbüchern gibt. Aber vielleicht ist es auch etwas ganz Häufiges, so häufig, dass es in seiner unauffälligen Form fast schon normal ist. Stellen Sie sich einmal vor, viele von uns hätten viele Persönlichkeiten, und Melanie auch. Wenn es recht ist, machen Sie einmal eine Liste von allen Melanies, die Sie kennen. Was denken Sie, gibt es fünf oder zehn oder zwanzig oder mehr? Geben Sie jeder von ihnen einen Namen, liebevoll oder frech, nur nicht zu böse. Wenn Sie wollen, können Sie auch eine kurze Zeichnung anfertigen zu jeder Melanie, die Sie entdeckt haben. Hängen Sie die Liste in Ihren Schlafzimmerschrank und ergänzen Sie sie ab und zu. Und zwischendurch, wenn Melanie Sie wieder überrascht, überlegen Sie: Welche Melanie war das? Hat sie einen Namen? Kenne ich sie schon? Und dann antworten Sie genau dieser Melanie und keiner von den anderen… Ist für Sie das in Ordnung?”

Die Klientin begrüßte die Idee. Sie führte die Anweisung aus und fand sie sehr hilfreich, um ruhig und geordnet auf die verschiedenen “Melanies” zu reagieren, die ihr begegneten. Der Umgang zwischen Pflegemutter und Pflegetochter entspannte sich dabei.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Ein neuer Blick auf scheinbar schlechte Reaktionen„.

Geklappt und gekippt

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Was soll ich mit meiner Pflegetochter machen? Ich könnte Melanie an die Wand klatschen, aber das reicht nicht. Am liebsten möchte ich sie zurückgeben. Sie lügt und lächelt dabei, sie beklaut uns und wars nicht, sie spielt sich auf: Was uns einfällt, ihr solche schlimmen Sachen zu unterstellen, und wenn sie überführt ist, macht sie uns eine Szene, heult, schimpft und knallt die Türen – oder geht aus dem Haus und sagt, sie bringt sich um. Abends kommt sie dann heim und tut, als wäre nichts gewesen. Nachts frisst sie den Kühlschrank leer und tags weiß sie nicht, warum das Essen weg ist. Und wenn wir mal einen richtig schönen Tag haben, dann macht sie abends alles kaputt. Eine Riesenszene aus rein gar nichts. Ich bin es so satt!”

“Kennen Sie das, wenn man ein Fenster versehentlich gleichzeitig klappt und kippt? Das hängt dann windschief im Raum und schlackert herum Kennen Sie das, wie schwierig es ist, es dann wieder in die richtige Position zu bringen?

Vielleicht verhält sie sich so, als ob Melanie auf eine Situation von jetzt und auf eine von früher reagiert. Einzeln ergibt jedes einen Sinn, gleichzeitig aber nicht: Weder wird sie den Gefahren von früher noch den Herausforderungen von jetzt gerecht. Etwas ist aus dem Lot, und doch ist die Absicht gut. Erlauben Sie mir, das zu erklären:

Ich stelle mir zum Beispiel vor, vor langer Zeit, als Melanie noch bei ihren Eltern war, haben die ihr eine gescheuert, wenn sie die Wahrheit gesagt hat und auch, wenn sie beim Lügen nicht überzeugt genug aussah. Vielleicht gab es aber auch nichts zum Essen, wenn sie es nicht geklaut hat – und aussah, als habe sie nichts mit der Sache zu tun.

Ich stelle mir vor, lieb und harmlos zu erscheinen oder eine gigantische Szene veranstalten, waren vielleicht die Dinge, die ihr Schläge und Strafen erspart haben.

Ich stelle mir vor, vielleicht haben die Eltern, wenn sie quietschvergnügt war und vor Freude schrie, ihr eine gepfeffert – und sie hat es starr und ohnmächtig erlitten. Und vielleicht hat sie herausgefunden, dass sie im Handeln und Gestalten bleibt, wenn sie die schönen Zeiten kaputt macht, bevor es jemand anderes tut – dann ist sie nicht mehr starr, sondern beweglich und nicht mehr ohnmächtig, sondern mächtig.

Stellen Sie sich vor, wie Sie das Fenster zuklappen, erst in die eine Richtung, mit der Würdigung, dass Melanie nicht im Jetzt, aber im Damals Gründe hatte, sich so zu verhalten, und dann in die andere Richtung, mit der Würdigung, dass Sie im Jetzt das Recht haben, verletzt und wütend und traurig zu sein. Und doch ist es gut, wenn Sie wissen, dass Melanies Verhalten nichts, aber auch gar nichts, mit Ihnen zu tun hat. Können Sie damit etwas anfangen?”

Die Klientin konnte etwas damit anfangen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Ursprungssituation ausgesehen haben mag, in der das unmögliche Verhalten eines uns nahestehenden Menschen einmal einen Sinn ergab, kann das Verletzungen reduzieren und helfen und trotz Komplikationen in einer guten Beziehung zu bleiben.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Ein neuer Blick auf scheinbar schlechte Reaktionen„. .

Die Fernseh-aus-App

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„Ich habe eine neue App auf meinem Handy“, erklärte mir ein Freund. „Wenn du auf einen Knopf drückst, macht sie alle Fernseher in der Umgebung aus. In Gaststätten zum Beispiel ist das ungeheuer praktisch.“ „Toll“, staunte ich. „Was es heutzutage nicht alles gibt.“ Einige Tage später erzählte mir eine Frau in der Therapie, in ihr laufe immer wieder ein Film ab von den schrecklichen Dingen, die sie erlebt habe. Jemand brauche nur ein bestimmtes Stichwort sagen, dann schalte sich das automatisch ein, und sie könne nichts dagegen tun. Ich erzählte ihr von der App auf dem Handy meines Freundes. „Sage deinem Gehirn einen schönen Gruß, es soll genauso eine App installieren. Es soll sie so programmieren, dass die erste Millisekunde deines Films den Knopf auslöst, der den Film abschaltet. Und wenn es mehrere solcher Filme gibt, sag deinem Gehirn eben, dass es eine App mit mehreren Knöpfen installiert.“

Die Metapher ist hilfreich, um das Unbewusste traumatisierter Menschen zu stimulieren, den Beginn intensiver Erinnerungen, die wie ein Geschehen im Jetzt erlebt werden, als Auslöser zu nehmen, um diese sofort wieder zu beenden.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Geduld und Zuversicht im Überwinden„.

Der Grashalm… als Trancereise…

Die Geschichte „Der Grashalm in der Wüste“ aus dem gleichnamigen Buch und Hörbuch kennt ihr möglicherweise schon. Oder doch nicht? Hier findet ihr sie als Trancreise, gesprochen von Anke Schubert-Hinrichs. Viel Spaß beim Anhören!


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