Der Grashalm in der Wüste
Ein Mann durchquerte eine Wüste. Rings um sich her sah er nur Sand, Steine, Felsen, den leuchtend blauen Himmel und über sich die glühend heiße Sonne. Auf der Hälfte seines Weges wollte er Rast machen und sah sich nach einem geeigneten Platz um. Abseits des Weges fand er einen überhängenden Felsen, der ihm Schatten bieten konnte. Der Mann ging dorthin. Als er dort ankam, sah er etwas Ungewöhnliches. Im Schatten dieses Felsens wuchs tatsächlich ein Grashalm. Er scharrte das Pflänzchen aus und legte es behutsam zur Seite, dann grub er tiefer und tiefer. Auch wenn er nicht gerade auf eine sprudelnde Quelle traf, so war die Erde hier tatsächlich etwas feucht.
Als der Mann sich wieder auf den Weg machte, vergaß er nicht, den Grashalm wieder auf die feuchte Erde zu setzen. Mit ein paar Steinen baute er eine kleine Mauer davor, um die Pflanze vor dem Austrocknen durch den heißen Wüstenwind zu schützen. Dann setzte er die Reise fort. Auf seinem Rückweg kam er wieder an der Stelle vorbei. Natürlich schaute er nach, ob sein Pflänzchen noch lebte. Er war sehr erfreut. Aus dem Grashalm war ein richtiges kleines Grasbüschel geworden. Der Mann grub noch tiefer in die Erde und drang in noch feuchteres Erdreich vor. Mit einem Tuch, zwei Pfählen und ein paar Schnüren, die er für die Rückreise mitgenommen hatte, verbesserte er den Windschutz für seine Pflanze. Jahre später musste ein Freund dieses Mannes dieselbe Wüste durchqueren. Da bat der Mann den Freund: „Schaue doch einmal nach, was aus meiner Pflanze geworden ist – ob sie noch da ist!“ Der Freund versprach es ihm. Von der Reise zurückgekehrt, berichtete er: „Aus deinem Grasbüschel ist ein kleines Stück Wiese geworden. Andere Reisende haben die Stelle entdeckt. Sie haben die Mauer vergrößert und noch mehr Pfähle mit Tüchern dort aufgestellt. Jemand hat einen Brunnen gegraben und mit einem Stück Leder abgedeckt. Neben dem Brunnen wächst ein schöner Feigenbaum. In seinen Blättern zirpte eine Grille.
Lebensfeindlich wie eine Wüste scheinen oft die Probleme, mit denen sich Menschen in Beratung oder Therapie begeben. Sie haben allen Grund, sich mit ihren Problemen zu befassen. Die Grashalme in ihrer Problemwüste sind so dünn gesät, dass es sich oft kaum zu lohnen scheint, sich mit ihnen zu befassen. Und wenn man einen Halm fände, hätte er auf sich gestellt, kaum eine Chance. Lohnt es sich, einen Grashalm zwischen Millionen von Steinen zu pflegen? Lohnt es sich, nach ihm Ausschau zu halten? Ich behaupte: Niemand wird eine Wüste verkleinern, außer indem er das Grüne vergrößert. Kaum jemand wird Probleme lösen, außer indem er sich dem Guten zwischen all dem Schwierigen zuwendet und dieses ausweitet. Aus Grashalmen Oasen zu machen, ist die erste Aufgabe von Beratung und Therapie.
© Stefan Hammel 2004